Essen. Wann genau überschreiten wir die rote Linie Putins? Dass sich Kanzler Scholz bei den Lieferungen von Panzern treiben lässt, ist brandgefährlich.

Befinden wir uns schon im Krieg mit Russland? Im Hinblick auf das, was man gemeinhin unter einem „Kalten Krieg“ versteht, ist die Frage klar zu bejahen. Im Hinblick auf das, was man einen „heißen Krieg“ nennt, ist die Antwort dagegen nicht eindeutig. Bei mir setzt sich jedenfalls das ungute Gefühl fest, wir stünden an der Schwelle dazu. Dass der Bundestag nun mit einem gemeinsamen Antrag der Union und der regierenden Ampel-Parteien für eine Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gestimmt hat, lässt dieses Gefühl nicht kleiner werden. Die rote Linie der Nato ist eindeutig: Greift Putin Nato-Gebiet an, wird das westliche Verteidigungsbündnis zurückschlagen. Wo aber ist die rote Linie Putins? Es ist zentraler Bestandteil seiner Strategie, das offenzulassen.

Manchmal hilft ja ein Blick in die Historie. 1914 lag wie heute ein heißer Krieg in der Luft. Ein kleiner Funke – das Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, in Sarajevo – genügte damals, um einen bis dahin beispiellosen Flächenbrand zu entzünden, an dessen Ende 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Könnte die vom Bundestag mit breiter Mehrheit beschlossene massive Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine der Sarajevo-Moment des Jahres 2022 sein – zumal Kiew nun sogar laut darüber nachdenkt, russisches Staatsgebiet anzugreifen?

Scholz hatte alle Tassen im Schrank

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Endlich, so lese ich in diesen Stunden in vielen Kommentaren, endlich habe der Kanzler eingelenkt, eine längst überfällige Kurskorrektur vorgenommen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das wirklich schlau war. Olaf Scholz dreht nun, getrieben von CDU-Chef Friedrich Merz und weiten Teilen der Koalitionspartner FDP und Grünen, mit an der internationalen Eskalationsspirale. Was Merz noch in der Bundestagsdebatte am Donnerstag als lasch, ängstlich und führungsschwach kritisiert hat, könnte stattdessen dies gewesen sein: klug, besonnen und umsichtig. Wir reden hier nicht nur über die Gefahr, kein Gas mehr zu bekommen. Das wäre schlimm genug. Wir reden über die Gefahr eines mit Atombomben geführten Dritten Weltkriegs. Es geht buchstäblich um alles. Da möchte ich keinen Kanzler haben, der sich von Emotionen leiten lässt. Ich will keinen Gefühlsdusel haben und erst recht keinen Heißsporn.

Ich will nicht, dass da einer im Kanzleramt sitzt, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.

Scholz hatte alle Tassen im Schrank. Bis Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Anton Hofreiter kamen, sahen und schlussendlich mit Erfolg Druck machten: Das Leid in der Ukraine sei unerträglich, sagten sie. Wer wollte dem widersprechen? Sie hatten das Grauen selbst vor Ort gesehen. Scholz müsse sich bewegen, müsse stark sein, nicht schwach, sagten Strack-Zimmermann, die gerne Verteidigungsministerin geworden wäre, und Hofreiter, der gerne irgendwas geworden wäre, abwechselnd in allen Talkshows der Republik. Es klang und war dramatisch. Gerade Hofreiter ist ja so etwas wie die männliche Light-Version einer Claudia Roth, von der ein geschätzter Kollege von mir mal geschrieben hat, sie lasse ihrem Herzen freien Lauf und halte das für Politik.

Partei- statt Staatspolitik

Was für eine Chance für Friedrich Merz! Auch der will etwas werden, bevor er zu alt ist dafür: Bundeskanzler nämlich. Und deshalb tut er, was ein Oppositionsführer – eigentlich – tun sollte. Er legt die Widersprüche innerhalb der Koalition offen, befeuert den Streit und sorgt mit einem Antrag im Bundestag dafür, dass Scholz und seiner SPD nur noch zwei Optionen bleiben: Entweder sie lenken ein und stimmen der Lieferung schwerer Waffen zu oder die Ampel-Regierung fliegt auseinander. Den Ausgang dieser Geschichte kennen wir. Was eines Tages in den Geschichtsbüchern stehen wird, weiß zur Stunde niemand.

Ich weiß nur eines: Wieder einmal hat Parteipolitik staatspolitisches Handeln dominiert, ja in weiten Teilen ersetzt. Bei der Abstimmung im Bundestag vor einigen Wochen zur Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht war es auch schon so. Merz hat die Uneinigkeit in der Regierung und seine Macht als Oppositionsführer genutzt, um Scholz seine erste große Niederlage beizubringen, und dabei in Kauf genommen, dass Deutschland im Herbst schlimmstenfalls in den nächsten Lockdown taumelt, weil die Impfquote je nach Virus-Variante nicht ausreichen wird. Das ist fatal: für Deutschland, für Scholz, aber auch für Merz selbst.

Merz ist auf Laschet-Niveau

Während die SPD in den bundesweiten Umfragen Stimmen verliert, können CDU und CSU keinen Boden gutmachen. Die Menschen wollen in diesen Tagen keinen Oppositionsführer, der permanent auf Angriff schaltet. Es gibt da eine gewaltige Bedrohung von außen. Die Menschen erwarten, dass die etablierten Parteien zusammenarbeiten, ja zusammenhalten. Dem Meinungsforschungsinstitut „Forsa“ zufolge sehen nur 18 Prozent in Friedrich Merz den präferierten Kanzler. Das ist (ich traue mich kaum, es zu schreiben, weil es so böse ist) Armin-Laschet-Niveau.

Die Menschen, die Bürger. Sie haben ein gutes Gespür dafür, was richtig und was falsch ist. Rund zwei Drittel der durch „Forsa“ Befragten fanden die bisherige Politik des kühlen Kopfes richtig. Nur 26 Prozent befürworten ein härteres Vorgehen und die Lieferung immer weiterer Waffen. Die übergroße Mehrheit der Bundesbürger möchte nicht, dass aus der Bundesregierung so etwas wie ein Waffen-Versandportal für die Ukraine wird – auch wenn deren Scharfmacher genau das in teilweise unflätiger Weise immer und immer wieder einfordern. Auch ein Gasembargo ist etwas, das der größte Teil der Bevölkerung nicht will.

Nicht alle haben eine Erdwärme-Heizung

Die Grünen-Wähler ticken da mehrheitlich allerdings anders. Es ist, ich gebe es zu, ein Klischee: Aber vor meinem geistigen Auge sehe ich die gut betuchten SUV-Fahrer (natürlich mit Plug-in-Hybrid), die erst im Bioladen einkaufen gehen, um dann, zu Hause angekommen, in ihrem neu gebauten Einfamilienhaus gemütlich die Heizung aufzudrehen, natürlich gespeist durch Erdwärme und Photovoltaik-Strom. Dass diejenigen, die zum Beispiel im Ruhrgebiet zur Miete wohnen und dort nur eine ganz normale Gasheizung haben, das Thema Gasembargo ETWAS anders einschätzen, liegt wohl auf der Hand.

Mein Sohn würde, liebe Grünen-Wähler, beim Blick in Ihre mutmaßlich verärgerten Gesichter jetzt laut rufen: Sorrrrry! War so nicht gemeint! (Oder nur ein bisschen.)

Vielleicht noch ein Wort zum Kanzler. Wer führungsstark sein will, darf nicht umfallen. Er muss stattdessen klar und deutlich kommunizieren, er muss erklären, muss die Koalition und seine Wählerschaft zusammenhalten, auf der er seine Macht gründet. Allerdings gelten im Krieg, insbesondere im Krieg mit Putin, andere Regeln. Transparenz, eigentlich die Bedingung der Möglichkeit für Demokratie, kann im Krieg tödlich sein. Wir können und sollen die nächsten Schritte Putins nicht kennen. Es wäre gut, wenn auch er nicht immer unsere nächsten Schritte kennt. Da ist weniger Kommunikation hier und da vielleicht mehr wert.

Mehr Scholz, weniger Hofreiter; mehr Verstand, weniger Gefühl; mehr Sicherheit, weniger Risiko.

Auf bald.