Essen. Nach dem Scheitern der Impfpflicht befürchten Experten neue Einschränkungen im Herbst. Vor allem ungeimpfte Menschen über 60 sind gefährdet.

Mediziner befürchten nach dem Scheitern einer allgemeinen Corona-Impfpflicht, dass die Pandemie im kommenden Herbst und Winter wieder Fahrt aufnimmt. Die Kliniken müssten sich bereits jetzt darauf einstellen und ihre Personalkapazitäten anpassen, sagt der Dortmunder Immunologe Prof. Carsten Watzl dieser Redaktion. „Ich hätte einer Impfpflicht für über 60-Jährige befürwortet“, sagt der Generalsekretär der Deutschen Immunologischen Gesellschaft. „Aus immunologischer Sicht hätte diese Entscheidung fallen müssen. Das hätte Menschenleben gerettet“, so Watzl. Auf die Kliniken kämen nun neue Belastungen zu.

Am Donnerstag war der Gesetzentwurf aus den Reihen der Ampelfraktionen für eine Impfpflicht für alle Menschen ab 60 Jahren bei der Abstimmung im Bundestag mit einer deutlichen Mehrheit gescheitert. Andere Anträge zu dem Thema erhielten nach kontroverser Debatte noch weniger Stimmen.

Virologe: Impfung für alle über 60 sinnvoll

„Eine Impfpflicht wäre aus medizinischer Sicht wünschenswert gewesen“, sagte auch der Kölner Intensivmediziner Prof. Christian Karagiannidis. Auf die Intensivstationen käme vor allem im Herbst und Winter sicherlich mehr Arbeit zu, sagte er dem WDR. „Es wird sehr wichtig sein, sich darauf medizinisch richtig vorzubereiten“, sagte Karagiannidis, der auch Mitglied im Expertenrat der Bundesregierung ist.

Ähnlich argumentiert Prof. Ulf Dittmer, Direktor des Instituts für Virologie am Uniklinikum Essen: „Es werden weiterhin, vermutlich im nächsten Herbst und Winter wieder vermehrt, Menschen schwer an Covid-19 erkranken. Die Belastung der Krankenhäuser bleibt also erhalten und andere Behandlungen werden weiter davon negativ beeinflusst werden.“

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    Aus medizinischer Sicht sei es sinnvoll, dass sich „alle Menschen ab 60 Jahren in Deutschland impfen lassen“, betont Dittmer. Denn besonders diese Personengruppe sei gefährdet. „In den USA sind mehr Menschen durch Omikron gestorben als durch die Delta-Variante“, erklärte Dittmer dieser Redaktion. „Und das waren fast ausschließlich über 60-jährige, ungeimpfte Personen.“ Bei der Impfpflicht-Debatte sei es darum gegangen, diese Menschen besser vor einer schweren Covid-19-Erkrankung zu schützen.

    Kein neuer Anlauf für eine Impfpflicht

    Bislang habe sich etwa die Hälfte der Bevölkerung mit der Omikron-Variante angesteckt, bis zum Herbst werde die Zahl erheblich steigen, sagte Watzl. „Dann werden wir das gleiche durchmachen wie in diesem Winter.“ Dies sei aber nur das positive Szenario. „Es kommt darauf an, was das Virus bis dahin macht“, gibt Watzl zu bedenken. „Es ist nicht auszuschließen, dass das Virus gefährlicher wird, wenn es schafft, das Immunsystem von Genesenen zu umgehen.“

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    Zusätzlich drohe im kommenden Herbst eine Grippewelle. „Dann wäre die Belastung in den Kliniken wieder sehr hoch“, mahnt Watzl. Zwar halte er einen Lockdown im Herbst für unwahrscheinlich, doch erneute Maskenregelungen sowie 2G- oder 3G-Maßnahmen seien denkbar.

    Bedenkliches Signal für die Impfbereitschaft

    Zurückhaltend bewertet Prof. Ralph Brinks, Epidemiologe an der Uni Witten/Herdecke, eine allgemeine Impfpflicht. Für die nächsten Wochen hätte dies ohnehin keinen Einfluss auf den Verlauf der Pandemie gehabt. „Ob und wie die aktuell verimpften Vakzine auf zukünftige Virusvarianten wirken, kann auf wissenschaftlicher Grundlage auch nicht sicher beantwortet werden.“ Auch Brinks erwartet, dass die Coronazahlen im Herbst wieder ansteigen werden: „Vor dem Hintergrund der Herbst-Wellen der vergangenen beiden Jahre ist mit der kälteren Jahreszeit wieder mit einem Anstieg der Fallzahlen zu rechnen“, so Brinks.

    Das Scheitern der Impfpflicht sende ein bedenkliches Signal, denn die Impfbereitschaft der Menschen sei bereits jetzt gering, sagt Watzl. Einen neuen politischen Anlauf für eine generelle Impfpflicht sei indes wenig sinnvoll. „Wenn wir im Herbst bemerken, dass wir sie brauchen, ist es zu spät.“