Essen. Ein Klinik-Direktor beschreibt Omikron als relativ harmlos - und boostert dann sogar seine kleinen Kinder. Wie erklärt er diesen Widerspruch?
Um einer Produktenttäuschung beim Lesen dieser Kolumne gleich vorzubeugen: Wie gefährlich Omikron für Kinder wirklich ist, weiß ich nicht. Ich bin kein Mediziner, und die Aussagen, die von Fachleuten kommen, sind unklar oder widersprüchlich. Kein Wunder. Anders als die Windpocken etwa ist die derzeit bis in den letzten Winkel der Republik vordringende Coronavirus-Variante, die vor allem Eltern mit Kindern in Atem hält, eine Unbekannte. Was man sieht, sind akut ganz überwiegend milde Verläufe. Was man nicht sieht, sind mögliche langfristige Folgen einer Infektion. Wie auch?!
In meiner vorhergehenden Klartext-Kolumne habe ich kritisiert, dass die Politik Familien mit Kindern im Stich lasse. Es gebe eine „lupenreine Durchseuchung“ in Schulen und Kitas, die so niemand benennen wolle. Bislang etwa rund 1000 Kinder in Deutschland könnten nach Experteneinschätzung in der Pandemie an dem multisystemischen Entzündungssyndrom Pims als Folge einer Corona-Infektion erkrankt sein. Und ausgerechnet in einer solchen Lage denken verantwortliche Politiker in Berlin und Düsseldorf über Lockerungen nach.
„Faktisch schlichtweg falsch“
Man bekommt als Journalist nicht oft Lob nach Meinungsbeiträgen. Darum geht es auch nicht. Diesmal aber war es anders. Ein Vater zweier Kita-Kinder schrieb, ich spräche ihm „voll aus der Seele“. Er fürchte, „es werden wieder einmal die Kinder und Familien sein, die den Preis für vorschnelle Lockerungen bezahlen“. Ein anderer Leser meinte: „Hoffentlich wird dieser Beitrag von den politischen Entscheidungsträgern in NRW wahrgenommen und trägt zum Nachdenken bei.“ Es folgten weitere Mails mit ähnlicher Stoßrichtung.
Dann aber schrieb mir ein Medizin-Professor aus dem Ruhrgebiet, sehr sachlich und durchaus freundlich im Ton, aber auch klar in der Sache. Einige meiner Aussagen in der Kolumne seien „faktisch schlichtweg falsch, bisweilen sogar übertrieben reißerisch“. Fakt sei doch, dass Covid-19 bei der überwältigen Mehrheit der Kinder blande oder gar völlig asymptomatisch verlaufe. (Als „bland“ oder „blande“ bezeichnet man in der Medizin einen milden, reizlosen bzw. nicht-entzündlichen Krankheitsverlauf.) Alle Zahlen, auch die Zahlen aus dem Deutschen Covid-Kinderregister, belegten das.
„Durchseuchung“ sei zu reißerisch
Zudem trete Long Covid bei Kindern nur in sehr seltenen Ausnahmefällen auf. Der von mir verwendete Begriff „Durchseuchung“ sei „negativ und recht reißerisch konnotiert“. Zwar sei der Begriff infektionsepidemiologisch korrekt, „aber wo bitte ist dabei das medizinische Problem, wenn das oben Geschriebene zu Covid bei Kindern zutrifft“?
Eine solche Mail, zumal dann, wenn sie von einem offensichtlich durchaus wohlmeinenden Fachmann kommt, legt man nicht einfach zur Seite. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist – aber ich habe die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Ich habe mich in meinem Leben, auch in meinem Berufsleben, schon öfter mal geirrt und mir antrainiert, dass dann auch zuzugeben und mich zu korrigieren. In dieser Pandemie ist das sogar geradezu überlebensnotwendig, weil sich das Virus wandelt und neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Politik ständig alte, überholte ablösen. So kommt es, dass man erst gegen eine Impfpflicht ist, sie dann kritisch in Erwägung zieht und später sogar ein glühender Anhänger derselben wird. Das sieht übrigens auch der Medizin-Professor aus dem Ruhrgebiet so. Zum Thema Impfpflicht: „volle Zustimmung“!
Windpocken-Erreger bleiben ein Leben lang
Ich überlege und antworte ihm: „Bei allem Respekt vor Ihrer Profession als Mediziner lassen Sie einen entscheidenden Umstand weg: Wir wissen schlicht zu wenig über Omikron. Wir wissen praktisch nichts über mögliche Langzeitfolgen einer Erkrankung, auch nach mildem Verlauf, bei heranwachsenden Kindern.“ Ich weise darauf hin, dass es andere Viren gibt, deren Auswirkungen teilweise erst viele Jahre später zu Tage treten. Die oben erwähnten Windpocken sind ja so ein Beispiel. In der Regel ist man nach einer ersten Erkrankung lebenslang gegen Windpocken immun. Doch die Erreger bleiben im Körper. Noch Jahrzehnte später können sie bei Erwachsenen eine Gürtelrose auslösen.
Zum Thema „Durchseuchung“ zeige ich mich irritiert: Wenn es sich auch aus fachlicher Sicht genau darum handelt – weshalb soll ich das dann nicht schreiben dürfen? Nicht der Begriff ist doch das Problem, sondern der damit beschriebene Sachverhalt. Und Euphemismen, also Begriffe, die unschöne Themen sprachlich in Zuckerguss hüllen, gibt es doch genug: „Vollschlank“ statt „dick“, „Preisanpassung“ statt „Verteuerung“, „Null-Wachstum“ statt „Stagnation“, „Verteidigungsfall“ statt „Krieg“. Wie also wollen wir eine Durchseuchung nennen? „Virus-Vollkontakt-Strategie“? „Flächiges Immunsystem-Fitnesstraining“? „Komplette Covid-Kennenlern-Runden“?
Wie viele tote Kinder sind akzeptabel?
Meine Antwort fällt natürlich sachlicher aus. Der Medizin-Professor sendet eine ebenso sachliche Rückantwort: Dass wir zu wenig über Omikron wüssten, sei ein „Totschlagargument“, schreibt er und stellt eine Gegenfrage: „Wann wissen wir denn genug?“ Nach zwei Jahren, fünf Jahren, zehn Jahren? Nach zwei Jahren Pandemie wüssten wir sehr wohl, dass Kinder nicht die Risikogruppe und nicht die Pandemietreiber seien. Ein gutes, nachvollziehbares Argument, finde ich.
Der Mailwechsel setzt sich fort. Wir diskutieren über Restrisiken. „Risikoabwägung machen wir als Gesellschaft doch jeden Tag, auch bei Kindern“, schreibt der Professor. Die durchaus zynische, aber berechtigte Frage steht im Raum: Wie viele tote Kinder im Straßenverkehr sind akzeptabel? Jeder würde aus dem Bauch heraus antworten: keine. Aber stellen wir deswegen den Straßenverkehr ein? Natürlich nicht. Hier haben wir einen Konsens. Und doch stolpere ich an einer Stelle des Mailwechsels gewaltig. Denn der Medizin-Professor hat mir etwas anvertraut. Er selbst hat zwei kleine Kinder, eines davon ist jünger als fünf Jahre – und er hat beide Kinder nicht nur geimpft, sondern sogar geboostert.
„Volle Dröhnung“ für die eigenen Kinder
Zur Erinnerung: Die Ständige Impfkommission empfiehlt nicht einmal klar eine Impfung für Fünf- bis Zwölfjährige. Werden sie doch geimpft, dann besteht eine vollständige Impfung aus zwei Spritzen, nicht drei. Und für Kinder unter fünf Jahren ist eine Impfung noch gar nicht zugelassen. Warum also verpasst der Professor, flapsig ausgedrückt, seinen Kindern die volle Dröhnung, wenn Omikron angeblich so harmlos ist? Sind die Restrisiken nicht vielleicht doch inakzeptabel hoch – so hoch jedenfalls, dass der Fachmann sogar sein kleinstes Kind dreimal mit einem dafür nicht zugelassenen Impfstoff impft?
Der Medizin-Professor antwortet auf meine Vorhaltung, und die Antwort ist auf dem ersten Blick plausibel: „Wir wollen unseren Kindern ganz einfach so viel gesellschaftliche Freiheit wie möglich ermöglichen, Quarantänen ersparen etc.“ Und natürlich fühle man sich „auch irgendwie schon besser“, wenn die Kinder geimpft seien. Es habe sich mehr um eine „strategische“ als eine medizinische Entscheidung gehandelt, auch weil der Impfstoff im Hinblick auf Nebenwirkungen vergleichsweise harmlos sei.
Der kleine Terrier kommt zum Vorschein
Ich lese die Antwort und spüre einen wachsenden Druck im Kiefer. So muss sich ein kleiner Terrier fühlen (und alle liebenden Terrier-Besitzer mögen mir den Vergleich verzeihen), der gerade große Lust verspürt, sich nach dem ersten Zuschnappen festzubeißen in dem zuckenden Bein, das er erwischt hat. „Ach so“, beginne ich meine nächste Mail mit einer scheinbar harmlosen narrativen Aufblähung, „nur aus Interesse: Wenn es vor allem eine strategische Entscheidung war (Quarantäne vermeiden etc.), warum dann eine Boosterung“?
Antwort: „Weil nur die vorhandene Boosterung jedwede Diskussionen mit Schulen, Kitas, Gesundheitsämtern und Restaurants im Keim erstickt.“ Ich erwidere ebenso knapp: „Kinder gelten mit doppelter Impfung als vollständig geimpft. Da gibt es dann keine Diskussionen mehr, nicht einmal im Keim.“ Der Professor spielt mit und antwortet wieder, diesmal etwas zu flappsig, als wenn er etwas überspielen möchte: „Noch. Die Diskussion wird aber kommen, wollen wir wetten...?“
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Terrier wetten nicht. Sie verstehen keinen Spaß, wenn das erste Blut aus den Waden tritt. Ich antworte wieder ausführlicher: „Keine Ahnung. Aber wenn es dazu kommt, könnten sie Ihre Kinder ja noch immer boostern. (...) Wissen Sie, für mich ist das, wenn ich zum Arzt gehe und für mich oder meine Kinder eine schwierige Entscheidung treffen soll, immer der Moment der Wahrheit. Dann frage ich den Arzt meines Vertrauens: Was würden Sie denn an meiner Stelle tun? In dem Moment sprechen wir nicht mehr abstrakt über Statistiken, über akzeptable oder nicht akzeptable Risiken; dann geht es ans Eingemachte. Das genau war und ist mein Thema, lieber Herr Professor. Sie boostern, was ich für außergewöhnlich bemerkenswert halte, sogar ihr Kind unter fünf Jahren (dafür gibt es keine Zulassung, keine belastbaren Daten) und erzählen mir (...) zumindest im Hinblick auf Long Covid, ich spitze einmal zu, wir alle sollten uns nicht so aufregen. Alles sei halb so schlimm. Sorry, aber das funktioniert so nicht.“
Wir lassen die Tassen im Schrank
Rrrrrrrrr. Irgendwo unter Haut, Sehnen und Muskeln wartet der Knochen. Ich rieche ihn förmlich. Der Widerspruch steht im Raum: Medizinisch sei das Impfen bei kleinen Kindern wenig sinnvoll, schreibt der Medizin-Professor, da Omikron zu milden Verläufen führe und man bislang wenig Long Covid sehe – greift dann aber bei seinen eigenen Kindern zu einer weitergehenden Off-label-Lösung, die aufgrund der gesellschaftlichen Regeln gar nicht gefordert ist (auch nicht absehbar). Rein logisch bleiben dann nur noch medizinische Gründe für das Handeln des Arztes übrig. Ich wolle ihm da etwas „unterschieben“, schreibt mir der Professor augenzwinkernd. „Unterschieben?“, schreibe ich scheinheilig zurück, „niemals!“
Am Ende lassen wir beide die Tassen im Schrank und verabreden uns auf ein Bier.
Zeit der Widersprüchlichkeiten
Eine Pandemie ist auch eine Zeit der Widersprüchlichkeiten. Ich bin mir sicher, dass der Professor nach bestem Wissen und Gewissen handelt, und bedanke mich bei ihm: „Toll, dass es so engagierte Mediziner wie Sie und ebenso fleißige Pflegekräfte gibt, die uns durch die Pandemie leiten und begleiten. Es ist eben nicht alles schlecht in Deutschland.“ Das meine ich genau so.
Bleiben oder werden Sie gesund!
Auf bald.