Essen. Endlich fährt Scholz in die Ukraine, die Welt schaut auf den Kanzler – und der schaut zurück im Kurzarmhemd. Da bekommen einige Schnappatmung.
Man darf es einen historischen Besuch nennen. Die Staats- und Regierungschefs der drei EU-Gründungsmitglieder aus Deutschland, Frankreich und Italien fahren mit dem rumänischen Staatspräsidenten nach Kiew und setzen sich in beispielloser Weise dafür ein, dass die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten bekommt. Vor allem die Reise von Scholz war mit Spannung – und ukrainischem Nachdruck – erwartet worden. Sogar Kiews Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, der Scholz noch vor Kurzem als „beleidigte Leberwurst“ beleidigt hatte, nimmt sein inneres Rumpelstilzchen anschließend an die Leine und zollt dem Kanzler, wenn auch sichtlich angestrengt, Respekt.
#kurzarmhemd
Und was tut Social-media-Deutschland? Ist etwa die spannende Frage Thema, wie lange eine EU-Mitgliedschaft auf sich warten lassen könnte? Warum Scholz nicht mehr Waffen im Gepäck hatte? Und wie Moskau wohl auf den Besuch in Kiew reagieren wird? Nein. Diskutiert wird unter dem hitzigen Hashtag #kurzarmhemd, ob Scholz in einem solchen hätte fahren dürfen oder nicht. Denn im Zug nach Kiew sah man Scholz mit Macron (weißes langes Hemd) und Draghi (Pullover über weißem Hemd) sehr leger in einem dunklen Hemd mit – Mein Gott, was für ein Fauxpas! – kurzen Ärmeln. Was für ein modisches Desaster! Fast so schlimm wie eine Jogginghose, über deren Träger der verstorbene Modeschöpfer Karl Lagerfeld ja mal gesagt hatte, sie hätten die Kontrolle über ihr Leben verloren. Und jetzt der Kanzler. Kontrollverlust im Kurzarmhemd.
„Gekleidet wie ein Gasableser in Jeans und Kurzarmhemd kommt Scholz zu Gesprächen über den Weltfrieden nach Kiew. Mein Gott, wie peinlich!“, tweetet ein gewisser Dr. David Lütke. Andere finden hämisch, Kurzarmhemden dürften nur Busfahrer tragen oder Kellner oder Versicherungsverkäufer. Oder Kegelbrüder.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Dr. Lütke und Co., habt Ihr eigentlich noch alle Krawatten im Kleiderschrank?
Diese zur Schau getragene Oberflächlichkeit, deren Opfer sonst gerne Frauen werden (man erinnere sich an endlose Debatten über Merkels Frisur), kann doch nur ein stummer Schrei Verzweifelter sein, die der Komplexität der Welt nicht gewachsen sind, diese aber durchschauen müssten, um über gewichtige Themen wie Krieg und Frieden mitreden zu können. Es ist nämlich so: Im atomaren Feuer, liebe selbsternannten Modekenner, verbrennen alle Hemden gleichermaßen vollständig – und ihre Träger gleich mit. Atombomben haben per se keinen Sinn für Stilfragen. Denkt darüber mal nach!
Mit Anzug und Krawatte aufs Fußballfeld
Das gilt auch für meine italienischen Kollegen von „La Repubblica“. Sie schreiben, vergleichsweise scheinbar zurückhaltend, Scholz’ Look sei „aus der Mode gekommen“. Im „Corriere del Giorno“ heißt es, der Kanzler trage ein „Halbarmhemd nach deutscher Art“. Ja, das können sie, süffisant spotten, dabei sind gerade die feinen Messer die schärfsten. Wie lächerlich das aussieht, wenn selbst der Mannschaftsarzt der italienischen Fußball-Nationalmannschaft mit Anzug und Krawatte aufs brütend heiße Feld läuft, um den verletzten Spieler in einer Wolke aus Eisspray-Aerosol verschwinden zu lassen – dazu kein Wort. Zur Strafe gab es dann ein bellissimo 5:2. Aber das sei nur am Rande erwähnt.
Zurück zum Thema und zur entscheidenden Frage: Was ist spießiger als ein Kurzarmhemd? Richtig: Kurzarmhemdenträger für spießig zu halten.
Die Marschbefehle der Modepäpste
Mein Freund, Journalist und Autor Harry Luck hat in seinem Buch „Wie spießig ist das denn? Warum Filterkaffee, Kurzarmhemden und Pauschalurlaub uns trotzdem glücklich machen“ vor einigen Jahren diejenigen aufs Korn genommen, die anderen vorschreiben wollen, was in Stil- und Modefragen erlaubt sein soll und was nicht. In einem Interview sagte Luck (nomen est omen!) diesen in Stein gemeißelten Satz: „Der intelligente Spießer zeigt ein gesundes Selbstbewusstsein gegen den Trend und die Marschbefehle der Hipster und Modepäpste.“ Und dann setzte er noch einen drauf: „Wer immer einen Regenschirm bei sich hat, sieht uncool aus, wird aber nicht nass und bleibt gesund.“
So!
Wer zweimal mit derselben pennt ...
Glücklicherweise, so muss man sagen, sieht auch eine Mehrheit im Netz den vermeintlichen modischen Fehltritt des Bundeskanzlers locker. „Hoptimist“ schreibt: „Dass der Bundeskanzler im #Kurzarmhemd in die Ukraine fährt, ist mir völlig egal. Wenn er dafür dann bessere Politik macht, kann er meinetwegen auch nackt fahren oder geschminkt.“ Und noch ein Twitter-Zitat, diesmal von „Tennisprofi Max Krx“: „Wer zweimal mit derselben pennt – Trägt morgen schon ein #Kurzarmhemd – Und glaubst du, das sei schlecht gereimt – Dann bist du jetzt mein GRÖSSTER FEIND!“
Auf bald.
PS: Sie fanden das Thema läppisch, haben aber trotzdem bis zu diesem „PS“ gelesen? Das kommentiere ich mal lieber nicht. Hier und hier und hier finden Sie die wirklich wichtigen Nachrichten und Analysen der WAZ zur Scholz-Reise nach Kiew.