Essen. . Menschen mit einer Dyskalkulie haben Probleme, Ziffern richtig zusammenzubringen. Anfangs können sie sich irgendwie behelfen, doch in der zweiten Hälfte der Grundschulzeit fallen die Probleme häufig auf. Doch es gibt Hilfe, auch wenn auf die Krankenkassen oft nicht gezählt werden kann.
Was fällt Ihnen auf, wenn Sie sich folgende Rechnungen anschauen: 5+4=8 und 9-3=7?
Vermutlich müssen Sie nicht lange überlegen – die Ergebnisse sind falsch. Vermutlich müssen Sie die Zahlen auch nicht an den Fingern abzählen, um zum richtigen Ergebnis zu kommen. Und vermutlich beginnen Sie jetzt, sich zu fragen, was das Ganze soll.
Was für Sie so selbstverständlich ist, dass Ihnen ein einziger Blick genügt, müssen sich Menschen mit Dyskalkulie lange antrainieren: durch Abzählen und Auswendiglernen. Denn sie haben Schwierigkeiten, Ziffern wie 7 oder 4 mit den entsprechenden Mengen in Verbindung zu bringen. Statistiken zufolge sind in Deutschland zwischen vier und sechs Prozent der Bevölkerung betroffen; einige Experten gehen jedoch von dreimal so hohen Zahlen aus.
Woran erkenne ich eine Dyskalkulie?
Nicht jeder, der mit Zahlen auf Kriegsfuß steht, muss sich helfen lassen. Es gibt viele Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, die sich beim Rechnen schwertun. Doch anders als jemand, der unter Dyskalkulie leidet, kämen auch die langsamsten Rechenkünstler irgendwann zum Ziel, sagt Gabriele Boerner. Seit 25 Jahren leitet die Mathematik- und Physiklehrerin in Essen ein privates Institut zur Behandlung von Dyskalkulie – seinerzeit das erste dieser Art in Deutschland.
Jemand mit ausgeprägter Dyskalkulie rechnet nicht – er zählt. Das mag anfangs noch funktionieren, doch spätestens bei dreistelligen Zahlen kommen die Finger nicht mehr hinterher. Außerdem schleichen sich typische Fehler ein, wie zum Beispiel das „Verzählen um eins“: Soll ein betroffenes Kind 17 plus 11 rechnen, zählt es die 17 mit, kommt also auf 27. Irgendwann merkt es sich: „Ich muss eine Zahl später mit dem Zählen anfangen“, fängt also erst bei 18 an und kommt so zum richtigen Ergebnis – allerdings ohne die Rechenoperation wirklich zu begreifen. Auch bei der schriftlichen Addition oder Subtraktion passieren Fehler, die oft weder Eltern noch Lehrer nachvollziehen können: So baut das Kind die einzelnen Stellen zusammen, indem es zum Beispiel bei 35 minus 16 zuerst von 6 bis 15, dann jedoch nicht von 2 bis 3, sondern wieder von 2 bis 13 zählt. Sein erstaunliches Ergebnis: 119. „Das sieht man doch, dass das nicht stimmen kann“, schimpfen die Eltern. Doch das Kind hat keinen Begriff von den Zahlen, es verfolgt bei seiner Rechnerei Prinzipien, die es abgespeichert, aber nicht verstanden hat.
Was bedeutet Dyskalkulie für die Betroffenen?
Das Mathematikverständnis von Menschen mit Dyskalkulie gleiche einem „wackligen Gebäude, das abgetragen und auf ein sicheres Fundament gestellt werden müsse“, sagt Gabriele Boerner. Mit 90 Prozent der Klienten müssten die Grundlagen der Mathematik völlig neu erarbeitet werden. Denn: „Dyskalkulie wächst sich nicht aus.“ Die Schwierigkeiten der Betroffenen würden stetig größer; viele scheitern in Schule oder Ausbildung, ohne dass jemand die Ursache für ihre Rechenprobleme entdeckt.
Anders als die Legasthenie, die mittlerweile gesellschaftlich einigermaßen anerkannt sei, ist Dyskalkulie nur wenigen ein Begriff: Wer nicht rechnen kann, wird von anderen für dumm gehalten. Mit mangelnder Intelligenz habe die Störung jedoch nichts zu tun, so Boerner. „Doch bei der Diagnose und Behandlung von Dyskalkulie hinken wir der Legasthenie um 20 Jahre hinterher.“
Wann kann eine Dyskalkulie festgestellt werden?
Bei den meisten Betroffenen führe die Dyskalkulie in der zweiten Hälfte der Grundschulzeit zu offensichtlichen Problemen, so Gabriele Boerner. Die Kinder sitzen stundenlang an Mathe-Hausaufgaben, die sie nach wie vor zählend zu bewältigen versuchen. Derart überfordert und mit dem Unverständnis von Eltern und Lehrern konfrontiert, sind die Kinder enormem Druck ausgesetzt. Sie seien weitaus anfälliger für psychische Erkrankungen als Gleichaltrige ohne Rechenschwäche, schreiben die Psychologen Liane Kaufmann und Michael von Aster im Deutschen Ärzteblatt.
Inzwischen sind laut Gabriele Boerner zwar viele Lehrer für die Merkmale der Rechenschwäche sensibilisiert, doch das sei meist auf Eigeninitiative zurückzuführen – in der heutigen Lehrerausbildung werde die Problematik nicht ausreichend thematisiert. Theoretisch, so Boerner, könne die Dyskalkulie auch schon im Kindergartenalter bemerkt werden, doch dazu müssten Erzieher und Erzieherinnen entsprechend ausgebildet sein.
Lässt sich Dyskalkulie behandeln?
Je früher die Dyskalkulie erkannt wird, desto besser kann sie behandelt werden. Doch auch bei Erwachsenen lässt sich mit etwas Zeit ein stabiles Mathematikverständnis aufbauen. „Es ist nie zu spät“, sagt Gabriele Boerner. Ihr ältester Klient sei 48 Jahre alt, stehe im Berufsleben und habe seine Dyskalkulie bisher verheimlichen können. Ein anderer Klient hingegen, ein junger, „hochintelligenter“ Mann, habe drei Lehren abgebrochen und eine psychische Erkrankung entwickelt. Mittlerweile jedoch, nach einem Jahr Therapie, stehe er kurz vor dem Abschluss einer Ausbildung – im kaufmännischen Bereich. Bei Kindern und Jugendlichen dauere die Therapie im Schnitt eineinhalb bis zweieinhalb Jahre, bei Erwachsenen auch mal bis zu vier Jahre.
Wer zahlt die Therapie?
Leider lehnten viele Krankenkassen die Kostenübernahme mit Hinweis darauf ab, dass es sich bei der Dyskalkulie weder um eine Krankheit noch um eine Behinderung, sondern lediglich um eine Lernstörung handele, so Gabriele Boerner. Manchmal gebe es zwar Kulanzregelungen, doch einen rechtlichen Anspruch gegenüber den Krankenkassen hätten Betroffene nicht.
Allerdings springe in manchen Fällen das Jugendamt ein: Gemäß § 35a KjHG kann einem Kind, das von „seelischer Behinderung“ bedroht ist, eine „Eingliederungshilfe“ gewährt werden. Bestätigt ein Facharzt also eine aufgrund der Dyskalkulie drohende psychische Erkrankung, könnten die Therapiekosten vom Jugendamt übernommen werden. Bei Erwachsenen kommt eine Förderung nach dem Sozialgesetzbuch infrage: Nach §§ 15, 16 SGB II kann die Agentur für Arbeit entsprechende Maßnahmen zur Eingliederung unterstützen, muss dies allerdings nicht tun.
Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie hat eine Literaturliste für Eltern und Lehrer zusammengetragen: www.bvl-legasthenie.de/literaturdyskalkulie