Frankfurt/Main. Der 28. Februar war der “Tag der Seltenen Erkrankungen“. Vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an etwas, das kaum jemand kennt. Am “Frankfurter Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen“ leisten Studenten medizinische Detektivarbeit und versuchen, diesen Krankheiten auf die Schliche zu kommen.
Juliane Pfeffel ist 23 Jahre alt. Fast ebenso lange, wie die Frankfurter Medizinstudentin lebt, leidet ein Mann aus Mittelhessen an einer rätselhaften Krankheit. Inzwischen kann der ehemalige Leistungssportler nur noch mit Rollator laufen. Die angehende Ärztin arbeitet am "Frankfurter Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen". Ihr Job: Medizinische Detektivarbeit.
Dass eine Studentin lösen soll, woran Fachärzte scheitern, gehört zum Konzept dieser Einrichtung. Die Studenten haben noch keine Fachbrille auf, sind offen, unvoreingenommen, "sie legen die Patienten nicht gleich auf ein Fachgebiet oder ein Organsystem fest. Das ist von unschätzbarem Wert", sagt Prof. Thomas O.F. Wagner, der Leiter der Einrichtung. Und sie seien extrem motiviert.
Seit 2011 gibt es am Frankfurter Universitäts-Klinikum eine Sprechstunde für Patienten mit unbekannter Diagnose. Die Menschen, die sich hier hinwenden, haben meist eine Odyssee von Spezialist zu Spezialist hinter sich. "Bei einem Mann wurden zehn Kernspin-Aufnahmen des Kopfes gemacht", schüttelt Wagner den Kopf. Im Referenzzentrum geht man anders vor: Keine neuen Untersuchungen, sondern sichten, was da ist - und zwar gründlich. Meist kommen die Patienten nicht mal persönlich nach Frankfurt.
Eine Diagnose nach der anderen wird ausgeschlossen
Jede neue Akte sei "wie ein Überraschungsei", sagt Pfeffel. Manchmal sieht sie handgeschriebene Fieberkurven oder liest rührende Leidensgeschichten in Schönschrift auf Karopapier. Sie ordnet die Dokumente, schaut Befunde und Bilder, Aufzeichnungen und Arztbriefe an. Dann wälzt sie Fachbücher, nutzt Diagnosesuchmaschinen, liest Fachjournale, befragt Professoren. "Unser Motto lautet: Alles ist wichtig", sagt die Studentin im siebten Semester.
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Nach und nach schließt sie eine Diagnose nach der anderen aus. Am Ende schreibt sie einen Bericht, den sie in der wöchentlichen Teamsitzung vorstellt. Bei dem Patienten aus Mittelhessen kam sie auf eine extrem seltene Erbkrankheit, die bisher nur in Skandinavien nachgewiesen wurde. Sie erkundigte sich, ob er dort Verwandte habe und schlug einen Gentest vor. Noch ist die Akte nicht geschlossen.
Andere Fälle sind glücklich gelöst, zum Beispiel der eines Mannes, der zehn Jahre lang periodisch Fieberschübe, Gelenkschmerzen und schweren Husten hatte. Immer wenn er beim Arzt war, war alles gut, sie hielten ihn für einen Hypochonder. Beim akribischen Aktenstudium fiel der Mitarbeiterin etwas auf, was allen entgangen war: der Beruf. Der Mann war Schlosser und arbeitete ohne Mundschutz mit beschichteten Blechen. Er war allergisch auf verdampftes Zink.
Studenten lernen viel für den Berufsalltag
So ein "happy end" ist allerdings selten. Nur in vier Prozent der Fälle wird eine neue seltene Krankheit entdeckt. Am häufigsten ist am Ende die Krankheit doch bekannt - leider aber nicht therapierbar. Die häufigste Diagnose heißt "Polyneuropathie", eine Nervenerkrankung, die Betroffene als "Mir tut alles weh" beschreiben. Auch wenn keine Heilung in Sicht ist, geht es den Patienten besser, behauptet Wagner: Die Rennerei von Arzt zu Arzt hat ein Ende. "Sie haben eine Diagose."
Zentren für unerkannte Krankheiten gibt es an vielen großen Krankenhäusern und Universitätskliniken. Mit der intensiven Einbindung der Studenten sei Frankfurt allerdings Vorreiter gewesen, sagt das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE). Inzwischen gebe es Nachahmer, zum Beispiel in Bonn und Ulm, weiß die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE).
Christine Mundlos, Ansprechpartnerin für Mediziner bei der ACHSE, findet es "eine hervorragende Idee", Studenten einzubinden. Nicht nur deren "freier Blick" sei hilfreich. Sie lernten bei dieser Arbeit auch viel für ihren späteren Berufsalltag: "Welche besseren Multiplikatoren für die Zukunft können wir uns wünschen?"
Rund 20 Stunden pro Woche investiert Pfeffel pro Woche in Telefondienst, Recherche oder die wöchentliche Diskussionsrunde. Geld hat sie dafür bisher nicht bekommen. Gerade aber hat die Robert-Bosch-Stiftung 242.000 Euro zur Verfügung gestellt. Damit wird bis 2016 die Arbeit der Studenten zumindest als Hilfskraft-Job honoriert. Rund ein dutzend junge Menschen gehören aktuell zum Team, gemeinsam bearbeiten sie pro Jahr knapp 200 Fälle. (dpa)