Berlin. Laut Experten leiden Hunderttausende in Deutschland an Skoliose, einer Verbiegung der Wirbelsäule. Jeder Fünfte ist deswegen in medizinischer Behandlung. Skoliose ist nicht heilbar, aber durch rechtzeitige Therapie aufhaltbar. Orthopäden raten Betroffenen zu lebenslangem Training der Rückenmuskulatur.
Dagmar Jürgensen hat alles Mögliche für ihren verbogenen Rücken getan. Viermal ließ sie sich an der Wirbelsäule und an den Rippen operieren. Als Kleinkind musste sie in einer Gipsschale liegen. Über ein Jahrzehnt lang trug sie ein Korsett. "Das war damals schwerer als ich selbst", erinnert sich die 64-Jährige aus Sindelfingen. Seit ihrem ersten Lebensjahr leidet sie unter einer schweren Form der Skoliose. Bei dieser Erkrankung ist die Wirbelsäule dauerhaft seitlich verbogen und verdreht.
Nach Expertenangaben leiden mehrere Hunderttausend Deutsche an Skoliose. Etwa jeder Fünfte von ihnen ist wegen einer starken Verbiegung des Rückgrates in medizinischer Behandlung. Die meisten Skoliosen entstehen während des Wachstums und schreiten in der Pubertät weiter fort. "Frühzeitiges Erkennen und Therapieren kann die Krankheit aufhalten, aber nicht heilen", sagt Professor Ulf Liljenqvist, Orthopäde am St. Franziskus-Hospital Münster. Wenn die Wirbelsäule erst ausgewachsen ist, lässt sich die Skoliose schwer oder gar nicht mehr beeinflussen.
Typische Zeichen einer Skoliose sind schief stehende Schultern und ein "Rippenbuckel" beim Vornüberbeugen. Der Arzt stellt bei der Untersuchung auch eine Asymmetrie der Taille fest. "Mitunter kommt es vor, dass die Verformungen rasch entstehen", sagt der Leonberger Skoliose-Spezialist Dieter Hoffmann. Sobald sich die Wirbelkörper auch nur ein wenig verschoben haben, geraten die Muskeln aus dem Gleichgewicht. Unter Umständen kann aus einer leichten Skoliose innerhalb weniger Monate eine schwere Verformung werden. "Am meisten sollte man in der präpubertären Wachstumsphase mit elf bis zwölf Jahren aufpassen", sagt Professor Liljenqvist.
Gentest soll das Rätsel lösen
Bei bis zu 90 Prozent der Skoliosen ist die Ursache unbekannt. Mit schlechter Körperhaltung hat die Erkrankung aber nichts zu tun. "Vermutet wird ein genetischer Defekt an ansonsten kerngesunden Menschen", sagt Professor Liljenqvist. Das könnte erklären, warum es Mädchen etwa viermal häufiger trifft als Jungen.
Die Medizin kann heute noch nicht voraussagen, wie die Erkrankung im Einzelnen verlaufen wird. Deshalb wird zurzeit an einem Gentest gearbeitet, der dieses Rätsel lösen soll. "Bislang wissen wir nur, dass die Verkrümmung umso schlimmer wird, je eher sie ausgebrochen ist", sagt Liljenqvist, der zu den besten Wirbelsäulenexperten Deutschlands gezählt wird.
Man soll sich regelmäßig kontrollieren lassen
Wichtigste Grundlage der Therapie ist die regelmäßige Kontrolle des Krankheitsverlaufs. "Betroffene Kinder sollten alle halbe Jahre vermessen werden", rät Hoffmann, der seine Skoliose-Praxis seit 32 Jahren führt. Dabei müssen sich Betroffene nicht mehr der gesundheitsschädigenden Röntgenstrahlung aussetzen. Viele Orthopäden bieten mittlerweile die strahlungsfreie Video-Raster-Stereografie an. Die weitere Behandlung ist davon abhängig, wie die Wirbelsäulenverformung ausgeprägt ist. Liegt der Krümmungswinkel der Wirbelsäule zwischen 10 und 20 Grad, wird regelmäßige Krankengymnastik empfohlen.
Bislang gibt es allerdings keine unabhängigen Studien darüber, welche Physiotherapie wirklich hilft. Bei Krümmungen bis 40 Grad raten Orthopäden zu einem Korsett, das bis zum Ende der Wachstumsphase rund um die Uhr getragen werden muss. Bei schweren Verformungen ab 40 Grad ist eine operative Korrektur notwendig.
Betroffene leiden unter psychischen Problemen
Dagmar Jürgensen, die seit 16 Jahren den Bundesverband Skoliose-Selbsthilfe mit rund 1700 Mitgliedern leitet, trägt seit fast 40 Jahren einen Metallstab zur Aufrichtung ihrer Wirbelsäule in ihrem Rücken. "Ich habe keine Schmerzen und kann alles machen", sagt sie. Nur Eingeweihte können ihre Skoliose erkennen. Als Bundesvorsitzende des Selbsthilfeverbandes setzt sie sich für ein Gütesiegel für Skoliose-Ärzte ein. "Es ist ganz schwierig, den richtigen Arzt zu finden", sagt sie. "Jugendliche, die ein Korsett tragen müssen, brauchen ärztliche Betreuer mit viel Einfühlungsvermögen", sagt Orthopäde Hoffmann.
Viele leiden unter psychischen Problemen und mangelndem Selbstbewusstsein. Da die Skoliose die Statik und Mechanik der Wirbelsäule stört, leiden Betroffene früh unter Verschleißerscheinungen. Schmerzen und Bewegungseinschränkungen sind die Folge. Deshalb raten Orthopäden zu lebenslangem Training der Rumpf- und Rückenmuskulatur. "Skoliose-Kranke haben einen Zweitberuf: Rückenpfleger", sagt Hoffmann. (Informationen über die Skoliose-Selbsthilfe: www.bundesverband-skoliose.de ) (dapd)