Berlin. . Einfach mal abschalten. Diesen Tipp beherzigen derzeit nur wenige Politiker. Die Folge ist neben Burn-Out auch der Abschied aus der großen Politik- die 620 Abgeordneten des Bundestags sind aus medizinischer Sicht Stresskandidaten.

„Schaffen Sie mal Raum für sich.“ Diesen Rat erteilt die Ärztin Barbara Vonneguth-Günther in letzter Zeit oft. Ihre Praxis ist voll und ihre Patienten speziell. Es sind die 620 Abgeordneten des Bundestags. Stresskandidaten. „Das ist wirklich ein sehr belastender Beruf“, sagt die Ärztin. Den Rat, mal abzuschalten, befolgen die Macher nur selten. Es ist ein Beruf, der krank macht, und ein Berufsstand, der genau das nicht wahrhaben will.

Rückblick, Pressekonferenz in Berlin: Riesenandrang, es klickt und blitzt. Alle Augen sind auf Andrea Fischer gerichtet. Sie hat gerade ihren Rücktritt als Gesundheitsministerin verkündet. Die Kamera fährt ganz nah ran. Sie zeigt zitternde Lippen, feuchte Augen. Ein Moment, an den sich die Grüne noch genau erinnern kann, obwohl seitdem elf Jahre verstrichen sind. Was damals in ihr vorging, deutet sie nur an: „Im Einzelnen ist die Politik durchaus hart.“ Vor allem wegen der permanenten Öffentlichkeit. „Es strahlt umso mehr, wenn Sie Erfolg haben, aber es wird sehr dunkel, wenn Sie Pech hatten.“

Aus Freunden werden Gegner

Fischer hatte „Pech“. Die BSE-Krise setzte ihrer Karriere ein Ende. Auf schlechtes Krisenmanagement folgte der Rücktritt. Aus „Parteifreunden“ wurden Gegner. „Das ist eine Erfahrung, die Sie erst mal wegstecken müssen“, sagt die 52-jährige Berlinerin. Damals bekam sie Depressionen.

Die Ex-Gesundheitsministerin ist nur ein Beispiel dafür, wie belastend Politik sein kann, jüngst erst bei den Piraten. Er sei „müde, ausgepowert und erschöpft“, begründete Partei-Sprecher Christopher Lang seinen Rückzug von der politischen Bühne. Ein halbes Jahr zuvor hatten Geschäftsführerin Marina Weisband und der Berliner Piratenchef Gerhard Anger ihren Rücktritt verkündet. Die Gründe: der öffentliche Druck und die hohen Erwartungen. Die Folge: gesundheitliche Probleme.

„Die Politik ist extrem belastend, weil alles permanent öffentlich ist“, meint Karl-Rudolf Korte, Politikprofessor an der Universität Duisburg-Essen. „Man muss maskenartig unterwegs sein, um sich zu schützen.“ Doch irgendwann verrutscht auch die beste Maske. Wie bei Matthias Platzeck, amtierender Ministerpräsident von Brandenburg, im Jahr 2006. Nach zwei Hörstürzen und einem Kreislaufzusammenbruch gestand der damalige SPD-Chef öffentlich, dass er seine „Kräfte überschätzt“ hatte. Es zog die Notbremse und trat zurück.

Zum Leben unter dem Brennglas der Öffentlichkeit kommt der Zeitdruck. „Schnell reagieren zu müssen, in der Echtzeit-Maschinerie der Überall-Medien zu stecken, ist extrem belastend“, sagt Korte. Die Rund-um-die-Uhr-Belastung und den Entscheidungsdruck habe man in der Wirtschaft auch, erklärt er, „aber in der Wirtschaft müssen sie keinen Shitstorm fürchten, wenn Sie mal ein falsches Wort sagen.“ Hamburgs Ex-Bürgermeister Ole von Beust kennt das. „Ein gelebtes Leben trägt nun einmal Narben davon“, schreibt er in seinem Buch „Mutproben“. „Doch als Politiker muss man heute die Sorge haben, dass das alles öffentlich groß und breit ausgetreten wird.“ Er ist nicht mehr dazu bereit. Im Sommer 2010 trat der CDU-Mann zurück.

„Schnell rauf – schnell runter“

„Es kann schnell rauf und schnell wieder runter gehen“, sagt Politologe Korte und nennt damit einen weiteren Belastungsfaktor: „Sich seiner Macht nicht sicher zu sein, das zerrt an den Nerven.“ Das Arbeitsverhältnis in der Politik sei prekär. Viele Abgeordnete haben keinen Beruf, sind abhängig von der Gunst der Wähler, dem Wohlwollen der Partei. Innerparteiliche Machtspielchen inklusive. Mit gesundheitlichen Folgen: „Leute werden auch unter extremer Abhängigkeit krank.“

Parlamentsärztin Vonneguth-Günther hat ordentlich zu tun. „Die Arbeitsbelastung hat zugenommen“, hat sie im Gespräch mit vielen Abgeordneten erfahren. Schuld seien auch die europäische Schuldenkrise, die weiten Reisen, die langen Sitzungen, die riesige Papierflut, die bewältigt werden muss. „Neben ihrem Job haben die Abgeordneten ja ein Leben wie jeder andere, mit pubertierenden Kindern und pflegebedürftigen Eltern“, gibt die Ärztin zu bedenken.

Eine Dauerbelastung, der schon viele Spitzenkräfte ihren Tribut gezollt haben. Wie Jürgen Trittin: Vor zwei Jahren erlitt der Grünen-Fraktionsvorsitzende einen Herzinfarkt. Linken-Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi hatte da schon zwei Infarkte hinter sich. Und Ex-Verteidigungsminister Peter Struck einen Schlaganfall. Generell seien Schlafstörungen, Erschöpfung und Bluthochdruck die häufigsten Krankheiten, mit denen Abgeordnete in die Bundestags-Praxis kommen, sagt Vonneguth-Günther.

Ex-Ministerin Andrea Fischer dagegen ist wieder gesund, sie hat ihre Depression schon vor Jahren überwunden. Ihr gehe es gut. Sie schaue „grundsätzlich positiv“ auf die Zeit in der Politik zurück. Ohne Groll. Auch der schadet der Gesundheit.