Essen. Im Revier sterben die Leute früher als in anderen deutschen Regionen. Schuld sind vor allem wirtschaftliche Probleme, geringe Bildung und Armut.
Forscher des Max-Planck-Instituts in Rostock und der Universität Groningen haben herausgefunden, dass die Menschen im Ruhrgebiet besonders früh sterben. „Die Lebenserwartung im Ruhrgebiet liegt innerhalb Deutschlands zurück", sagt Sebastian Klüsener, ein Autor der Studie. "Während Nordrhein-Westfalen lange Zeit weit vorne war, ist das Ruhrgebiet jetzt bei Frauen hinter den Osten zurückgefallen."
Waren in den 90ern die Kreise und Städte mit der kürzesten Lebensspanne der Frauen noch in Ostdeutschland, liegen sie laut Studie jetzt gehäuft im Ruhrgebiet. Lag 1996 zum Beispiel Duisburg mit Cottbus noch gleich auf, war die Revierstadt 2010 bereits abgehängt: Duisburgerinnen starben dann rund zwei Jahre früher als Frauen in Cottbus. Doch schon im Vergleich mit weiteren NRW-Städten sticht das Ruhrgebiet heraus. So leben heute etwa Bonnerinnen über 84 Jahre (dreieinhalb Jahre länger als in Duisburg). Bonner können fast den 80 Geburtstag feiern, während Duisburger keine 77 Jahre alt werden.
Süddeutsche leben am längsten
Am längsten leben die Menschen in Süddeutschland. Bei Frauen führt Baden-Württemberg mit fast 87 Jahren, gefolgt von Sachsen, Bayern und Hessen. "Ob eine Region abgehängt wird, ist aber immer weniger eine Frage der Himmelsrichtung", sagt Klüsener und vergleicht den Atlas der Lebenserwartungen mit einem Flickenteppich, der einzelne starke und schwache Regionen besitzt. Das Ruhrgebiet ist das Schlusslicht, da "auch im Westen Gebiete mit strukturellen ökonomischen Problemen zurückfallen".
Denn für ein langes Leben sei die Wirtschaftskraft einer Region immer wichtiger geworden. "Zu den ungünstigen Zahlen im Ruhrgebiet trägt auch bei, dass hier etwa im Vergleich zu München weniger Menschen mit hohem Bildungsgrad leben, die im Durchschnitt eine höhere Lebenserwartung haben", erklärt Klüsener. "Denn hohe Bildung bedeutet meist ein hohes Einkommen, höhere Renten und einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung." Umwelteinflüsse sind dagegen heute beherrschbar, zudem sind Industriestädte keine dreckigen Moloche mehr, und nach dem Zechensterben tötet auch die Staublunge kaum noch ehemalige Bergleute.
Arme Menschen sterben früher
Die Menschen im Ruhrgebiet sterben demnach früher, weil die Armut hier hoch ist. Die Arbeitslosenquote ist ebenfalls hoch und der Niedriglohnsektor groß. Wer weniger Geld hat, ernährt sich zudem ungesund. Immer mehr Menschen im Ruhrgebiet sind krankhaft fettleibig und müssen mit der Diagnose Adipositas stationär behandelt werden. Häufig beginnen die Gewichtsprobleme bereits im Kindesalter. Darauf weist der Bochumer Ernährungsmediziner Dr. Thomas Hulisz hin. Schon heute gelte bundesweit jedes sechste Kind als fettleibig. Die Betroffenen leiden oft an Diabetes, sie werden gehänselt und sind häufiger depressiv. Auch das ist eine Frage des Geldes: "Der reiche Süden des Ruhrgebiets hat weniger Übergewicht als der arme Norden.“
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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kämpft ebenfalls seit Jahren gegen schlechte Ernährung. "Ein Teil der Welt isst sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode“, warnte die WHO-Generaldirektorin Margaret Chan, und der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, erklärte, falsche Ernährung stelle mittlerweile eine noch größere Gefahr für die Gesundheit dar als das Rauchen.
Schnellstmöglich wegziehen?
Soll man jetzt also schnellstmöglich nach Süddeutschland ziehen, wo die Einwohner länger leben? Nein, bekräftigt der Demograf Sebastian Klüsener. "Menschen im Ruhrgebiet brauchen sich keine Sorgen machen, dass es ein schlechter Wohnort ist." Denn auch im Revier "steigt die Lebenserwartung und ist im globalen Vergleich sehr hoch." Seit den 90ern leben Ruhrgebietsfrauen mindestens sechs Monate länger und Männer sogar anderthalb Jahre Frauen werden mindestens 79,8 Jahre alt und Männer 74,6. Zudem ist nicht Nordrhein-Westfalen das Bundesland, dessen Einwohner am frühsten sterben, sondern das Saarland.
Der Blick nach Polen und Russland zeigt ebenfalls, dass selbst die niedrigen Zahlen aus dem Ruhrgebiet noch ziemlich gut aussehen: Polnische Männer sterben laut den Bundesstatistikern bereits mit 71 Jahren, mehr als drei Jahre früher als Rurgebietsmänner. Russen werden sogar nur knapp 60. Während Polinnen und Frauen aus dem Ruhrgebiet mit fast 80 Jahren etwa gleich alt werden, leben Russinnen nur etwa 73 Jahre.
Lebensdauer hängt vor allem von persönlichen Ressourcen ab
Von den Entwicklungen bei der deutschen Lebenserwartung profitiert übrigens am meisten der Nordosten, besonders Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. "Spitzenreiter ist der Landkreis Rostock mit einem Plus von sechseinhalb Jahren", schreiben die Forscher vom Max-Planck-Institut. Die ehemals große Kluft zwischen der BRD und der DDR gebe es nicht mehr, die neuen Bundesländern hätten enorm aufgeholt. "Mit den Unterschieden in der medizinischen Versorgung und bei den Renten verschwanden seit der Wende auch die Differenzen bei der Lebenserwartung mehr und mehr."
Dass sich im Ruhrgebiet die Lebensdauer verlängert, ist positiv. Dass sie langsamer wächst als in anderen deutschen Regionen weist auf strukturelle Probleme hin. Der Demograf Sebastian Klüsener weiß: "Lebenserwartung ist ein Indiz für Entwicklung." Sie hängt jedoch inzwischen, unabhängig vom Wohnort, "vor allem von persönlichen Ressourcen ab".