Gelsenkirchen. Der Gelsenkirchener, der vor zwei Monaten zwei Polizisten in einen Hinterhalt lockte, hat nun einer Gutachterin sein ungewöhnliches Motiv offenbart: Nach eigener Aussage wollte er sterben - aber „nicht kampflos“.

Töten wollte er. Das räumt Markus K. jetzt ein, der 21-Jährige aus Gelsenkirchen, der in der Nacht zum 9. August zwei Polizeibeamte in einen Hinterhalt lockte und mit dem Messer lebensgefährlich verletzte. Aber nicht die beiden hätte er umbringen wollen. Sterben sollte er selbst, behauptet er. Durch Schüsse aus ihren Dienstwaffen. Es gibt einen Begriff aus den USA dafür: Suicide by cops – Selbstmord durch Polizisten.

Fast zwei Monate hat der Auszubildende geschwiegen. „Fick dich“, rief er, blutend am Boden, einem Beamten Minuten nach der Tat zu. Und im Marienhospital Gelsenkirchen, wo ihm Projektile aus Bauch und Oberschenkel heraus operiert wurden, sagte er Vernehmungsbeamten, er werde nicht mit ihnen zusammenarbeiten. Das Vertrauen in den Staat fehle ihm. Jetzt erwartet ihn eine Anklage wegen zweifachen versuchten Polizistenmordes.

Psychose, Haschisch und Alkohol

„Ich konnte ihn nicht mit der Polizei reden lassen“, sagt sein Verteidiger Stefan Kixmöller, „was er mir in der Haft erzählt hat, erinnerte mich als psychiatrischen Laien an eine Psychose. Ich musste ihn schützen, weil ich Zweifel an seiner Schuldfähigkeit hatte.“

Erst bei der Gutachterin Maren Losch redet Markus K., als sie ihn Ende September zweimal im Essener Gefängnis besucht. Und die Psychiaterin erkennt eine Psychose mit schizophrenen und paranoiden Zügen, verstärkt durch jahrelangen Konsum von Alkohol und Hasch. Eine Tat aus innerlich aufgezwungener Angst, aus subjektiv empfundener Gequältheit. Mit Polizisten, die aus Zufall Opfer wurden.

Polizisten wollten Blechschaden aufnehmen

Sie kamen, um zu helfen. Am 8. August um 23.50 Uhr hatte Markus K. über 110 die Leitstelle „Erna“ der Gelsenkirchener Polizei angerufen: „Jochen Schmitz mein Name. Ich habe einen Auffahrunfall gemacht, beim Ausparken.“

Um 0.27 Uhr bekommt der Streifenwagen „Erna 21/31“ den Auftrag, zur Waterbergstraße 22 im Stadtteil Bulmke-Hüllen zu fahren, um den angeblichen Blechschaden aufzunehmen. Routine, nicht mehr, denken die 30-jährige Polizistin und ihr 45-jähriger Kollege. Doch als sie an dem Parkplatz in der Wohnsiedlung stoppen, und die Beamtin arglos aus dem Wagen steigt, greift der junge Mann sie sofort an. Sechsmal trifft sein Messer in Hals, Kopf und Arm. Der Täter eilt zur Beifahrerseite, sticht auf den Polizisten ein. Dreimal, ein Stich trifft die Lunge. Der 45-Jährige kann sich noch wehren, gibt vier Schüsse auf den Mann ab. Über Handy hört die Leitstelle „Erna“ alles mit. Die Schüsse, aber auch die kritische Lage der Beamtin, die das Bewusstsein zu verlieren droht: „Oh Gott, mir wird ganz schwindlig“, sagt sie, und aus dem Hintergrund hört „Erna“ den verletzten Kollegen, der sie wach halten will: „Bleib da!“

Die Messer kurz vorher gekauft

Alle Gelsenkirchener Streifenwagen werden zum Tatort gerufen, mehrere Beamte pressen die stark blutenden Wunden der Kollegin ab. Zwei kümmern sich um den angeschossenen Täter. Sie finden die Messer, die er erst sechs Stunden zuvor in einem Waffengeschäft der Essener Innenstadt gekauft hat: Magnum Satin Elegance (27,95 Euro) und Glock – Messer ohne Säge (39,90 Euro). Und eine Pistole im Hosenbund entdecken sie. Eine Gaspistole, sagt Markus K., den die Tat offenbar wenig erschüttert: „Wenn die scharf wäre, hätte ich sie benutzt.“

Bürgerlich ist er aufgewachsen, so sieht sein Lebensweg auf den ersten Blick aus. „Streng katholisch“, beschreibt ein Freund die Familie. Aber es gibt Brüche in der Familie: Der Vater, der sein Lehrerstudium geschmissen hatte und seitdem offenbar keinen Zugang zum Arbeitsmarkt fand; die auf Polizeibeamte unaufgeräumt wirkende elterliche Wohnung; die abgebrochene Kommunikation zwischen Markus’ Großmutter und seinem Vater.

Und Markus K., der das Gymnasium besucht hatte und von vielen Freunden als nett und freundlich geschildert wird? Tatsächlich sackten seine schulischen Leistungen seit dem zwölften Lebensjahr ab. Er verließ die Schule in der zwölften Klasse ohne Abschluss. Ein schlaksiger Typ, der nach Angaben der Freunde kiffte, Alkohol trank, zur rechten Szene engen Kontakt pflegte und sich auch schon mal prügelte. Mit Türken und Deutschen. „Ohne Anlass“, sagt ein Freund, „nur weil ihm die Nase nicht passte“.

Zunehmend verschlossen wirkte er auf seine Eltern, bei Freunden klagte er schon mal über den Sozialstaat, dass Deutschland zu viel Geld bezahle. Über das Internet besucht er die Homepage des rechtsextremen Norwegers Anders Breivik, bevor dieser am 26. Juli auf einer Ferieninsel 93 Menschen erschoss. Auch für Dignitas, die umstrittene Schweizer Sterbehilfeorganisation, interessiert er sich. Bei der Psychiaterin Maren Losch nennt er sein Motiv: Er habe gehofft, dass die Polizisten ihn erschießen. Aber nicht kampflos habe er sterben wollen, er wollte ein Fanal setzen, um die Institutionen Polizei und Politik zu treffen. Diese zerstörten den Staat durch Scheinsozialität und Überfremdung, meint er.

Völlig verwirrt beim Anruf

„Wenn das sein Motiv ist, dann ist er krank“, sagt Verteidiger Kixmöller. „Er sieht in allem ein Zeichen“, erzählt der Anwalt über die Rückfahrt aus Essen nach dem Messerkauf: „Sein Navigationsgerät stürzte ab, und das war für ihn das Zeichen, heute loszuschlagen.“ Auch die Gutachterin ist sich sicher, dass Markus K. nicht voll schuldfähig ist und wegen seiner weiterhin bestehenden Gefährlichkeit in die geschlossene Psychiatrie gehört. Die Justiz reagierte. Sie hat ihn aus der Untersuchungshaft geholt und dort untergebracht.

Die 18 Jahre alte Freundin von Markus K., die erst seit drei Wochen mit ihm zusammen war, hat kurz vor der Tat geahnt, wie es um ihren Freund bestellt ist. Gegen Mitternacht, eine halbe Stunde vor dem Angriff auf die Polizisten, telefonierte er per Handy mit ihr. Völlig verwirrt wirkte er, sagt sie. Von Mauern erzählte er, die sich in ihm und um sich herum befänden, die zu hoch seien. Ob er an Selbstmord denke, fragte sie ihn. Nein, hätte er geantwortet, aber gleich werde etwas Schlimmes passieren. Was, das sagte er nicht.