Dortmund. . In Dortmund-Scharnhorst bekommen jugendliche Straftäter statt Sozialstunden ein gutes Buch aufgebrummt. „Ab in den Knast!“ ist die Geschichte eines Jungen, der aus lauter Frust zum Straftäter wird. „Das Buch hat etwas mit seinem Leben zu tun“.

Der Junge hatte bloß mal wieder Langeweile, also klaute er, haute einen anderen oder machte irgendwas kaputt. Und dann stand der 15-Jährige vor der Jugendrichterin, und die sagte: „Ab in den Knast!“ – Nur war das keine Strafe, sondern ein Buch: In Dortmund werden Jugendliche zum Lesen verurteilt.

„Ab in den Knast“ ist die Geschichte eines Gleichaltrigen, der aus lauter Frust zum Straftäter wird, ein bisschen schlimmer als die des Jungen, ein bisschen anders, aber doch so, dass er sich womöglich darin wiedererkannt hat. Und das ist die Idee: „Das Buch hat etwas mit seinem Leben zu tun“, sagt Jochen Orgatzki-Rojahn, „vielleicht kann er sich mit den Straftaten, der Situation, der Familie darin identifizieren.“ Orgatzki-Rojahn ist Jugendgerichtshelfer im Stadtbezirk Scharnhorst, einer von denen, die ihre Pappenheimer kennen und nie aufgeben. „Wegsperren hilft denen nicht, man muss schon mit ihnen arbeiten!“ Also hat sich Orgatzki-Rojahn die Sache mit dem Lesen abgeguckt.

In Dresden oder Göttingen gab es sie schon, und dann schickte man ihm Christine Schmitt nach Scharnhorst, diesen Stadtteil im Nordosten Dortmunds, der etwas hat von der „Ameisensiedlung“ aus Orgatzki-Rojahns Bücherliste: einer „Hochhaus-Siedlung in der Peripherie“, wo die Jugend nachmittags am Einkaufszentrum abhängt. Christine Schmitt ist die zuständige Jugendrichterin, 32 erst und von derselben engagierten Sorte. „Straftaten begehen die Jugendlichen in ihrer freien Zeit. Also muss ich ihre Freizeit beschneiden und fessele sie – an ein Buch!“ Und schon, frohlockt die Richterin, „sind sie weg von der Straße, pöbeln nicht und prügeln nicht“.

Ausweis für ein Jahr

Das wäre nun ein bisschen einfach, aber seit das Projekt zu Ostern begann, haben alle Betroffenen auffällig artig mitgespielt. Trugen ihren Bücherzettel brav in die Stadtteilbücherei, bekamen einen Leseausweis für ein Jahr, liehen das vorgeschriebene „tatbezogene“ Buch aus und lieferten nach vier Wochen eine handgeschriebene Zusammenfassung des Stoffs ab. So sollen sie beweisen, dass sie selbst gelesen haben. Einer ließ seinen Text von seinem Klassenlehrer kontrollieren, ein Mädchen malte kleine Bildchen dazu, ein Junge lieferte ein ganzes Zettel-Konvolut: „Nach zwei Seiten war das Buch noch nicht fertig!“

Und Christine Schmitt fragt nach: Was hast du in der Geschichte wiedererkannt? Kannst du mit den Konfliktlösungen darin etwas anfangen? Die 18-Jährige, deren Zickenkrieg in einem Schlag mit dem Hockey-Schläger gipfelte, ließ sie ein Buch über Mobbing lesen, einen 15-Jährigen, der einen Einkaufswagen zerlegte, ein Werk über die Eskalation von Gewalt. „Über einen Diebstahl zu lesen“, glaubt Jochen Orgatzki-Rojahn, „bedeutet, sich mit der begangenen Tag viel intensiver und länger auseinander zu setzen.“ Und: „Da ist Erziehung drin!“

So will es ja das Jugendstrafrecht, das auf den Erziehungsgedanken setzt. Nicht: „Zack, weg!“, wie Richterin Schmitt sagt. Meist werden Sozialstunden verhängt, „Stunden kloppen“, sagen die jungen Straftäter, aber seit Schmitt einen Jugendlichen sah, der in einer Freizeitstätte „mit hängenden Schultern Tische abwischte“, fragt sich sich: „Hat das wirklich einen erzieherischen Effekt?“ Da verhängt sie lieber „Buch statt Arbeit“.

Natürlich geht das nicht bei jedem, „werdende Intensivtäter lässt man lieber gleich arbeiten“. Und „einen, der zwei Jahre gesessen hat und sofort wieder auffällig wird, braucht man auch nichts lesen zu lassen“. Aber die Ersttäter, deren Konflikte mit dem Gesetz – noch – kleine sind, die sich im Discounter eine Cola klauen oder die Bushaltestelle beschmieren, die hofft die Jugendgerichtshilfe zu erreichen. „Goethe kommt nicht in Frage“, sagt Orgatzki-Rojahn; „bloß keine Effie Briest“, warnt Christine Schmitt, „aber wenn wir nur den einen oder anderen erreichen. . .“

Lieber frei schmökern

Es steckt auch viel Hoffnung in „Buch statt Arbeit“, eine „geheime Hoffnung“, wie sie in Scharnhorst zugeben: „Dass einer dann auch mal was anderes liest“, wenn er schon mal da ist und einen Ausweis hat, schließlich ist Lesen doch keine Strafe! Für manchen aber ist es vielleicht das erste Mal, dass er ein ganzes Buch liest, „eine Leistung“, findet die Leiterin der Dortmunder Jugendgerichtshilfe, Doris Punge. Und abschrecken können Geschichten aus dem Knast ja auch. „Dort“, weiß Orgatzki-Rojahn, „gibt es auch eine Bibliothek. Aber da wollen die Jugendlichen doch lieber in Freiheit lesen.“