Évian-les-Bains. Über Jahre war der Mittelfeldstratege im eigenen Land umstritten. Mit der WM 2014 kam die Akzeptanz. Im EM-Viertelfinale gegen Italien ist die Nationalelf abhängig von ihm – erklärt der Bundestrainer.

Wenn im Fitnesszelt der deutschen Nationalelf House Music oder Hip Hop aus den Boxen dröhnen, nimmt sich Toni Kroos seine Kopfhörer und dreht „Pur“ auf. „Ich glaube, das will sonst keiner hören“, sagt der 26-Jährige über die Pop-Band aus Bietigheim-Bissingen in Baden-Württemberg, die bei Leuten in seinem Alter so beliebt ist wie Ausgeh-Abende in Bietigheim-Bissingen. „Von daher ziehe ich das für mich allein durch“, sagt Kroos und lacht über sich selbst.

Toni Kroos hat sich früher mal durch eine Wurstigkeit bei öffentlichen Auftritten ausgezeichnet – und „Pur“ erinnert einen noch daran. Heute sitzt einem ein Mann gegenüber, dessen Selbstvertrauen den Raum ausfüllt.

Der Sätze sagt wie: „Ich weiß nicht, warum ich ein Italien-Trauma haben sollte. Das muss mir erst einmal einer erklären.“ Und dem man das dann nicht als Arroganz, sondern als Coolness auslegt. Er hat jetzt eine Aura bekommen.

Natürlich könnte man die These vertreten, dass Kroos ein Italien-Trauma mit sich herumträgt: Die Niederlage im EM-Halbfinale 2012 gegen die Squadra Azzurra wird bis heute vornehmlich an seiner Hereinnahme in die Startelf festgemacht. Kroos, der zuvor kein Spiel bestritten hatte, sollte den Spielgestalter Andrea Pirlo bewachen.

Seit 2014 endlich akzeptiert

Es wurde die zweite große Pleite kurz vor einem Titel in der Ära Joachim Löw, die auch mit dem Namen Kroos in Verbindung steht: 2010 vergab er kurz nach seiner Einwechslung im WM-Halbfinale die einzige Chance zur Führung gegen Spanien. Deutschland verlor 0:1. Aber Italien war schlimmer.

Erst seit der WM 2014 haben Kroos und die deutsche Nationalelf zueinander gefunden. Damals bereitete er vier Treffer vor und wurde ins WM-Allstarteam gewählt. „Toni ist seit längerer Zeit ein entscheidender Faktor für uns“, sagt Löw. Wenn die Mannschaft des Bundestrainers am Samstag im EM-Viertelfinale mit allerhand Zuversicht ins Spiel gegen Italien geht (21 Uhr), dann liegt das auch an der Form von Kroos. Der gescheiterte Pirlo-Bewacher von vor vier Jahren ist heute selbst eine Art Pirlo geworden.

Wie beim mittlerweile zurückgetretenen eleganten Zampano hat sich Kroos’ Spiel im zentralen Mittelfeld etwas nach hinten verlagert. Und wie Pirlo damals bei den Italienern gibt er heute den Takt im deutschen Team vor: 449 Pässe hat der Profi von Real Madrid bei dieser EM bisher gespielt, 93 Prozent davon kamen beim eigenen Mann an. Weit abgeschlagen folgen Granit Xhaka (398 Pässe), Andres Iniesta (356) und Sergio Ramos (310). Kein Spieler hat einen größeren Einfluss auf den Rhythmus seiner Mannschaft.

„Toni spielt sehr ökonomisch, sehr ballsicher. Er sorgt für eine gute Symmetrie auf dem Platz“, sagt Löw und meint das Gleichgewicht zwischen Offensive und Defensive.

„Er ist bei uns einer der wichtigsten Spieler. Er bestimmt das Tempo, spielt sehr kluge Pässe und hat Verantwortung übernommen“, sagt Jerome Boateng. Löw hat kurz vor dem Turnier erleben können, was passiert, wenn man Kroos aus der Mannschaft nimmt: Beim Champions-League-Finale gegen Atlético Madrid holte ihn Real Madrids Trainer Zinedine Zidane in der 72. Minute vom Feld. Danach verlor das Spiel der Königlichen die Balance, Atlético glich aus, und Real hatte am Ende nur das Glück, im Elfmeterschießen die Nerven zu bewahren. Löw, der sich 2012 noch viel Kritik für die Hereinnahme von Kroos anhören musste, weil er ihn auch falsch einsetzte, würde das nicht passieren: Beim Bundestrainer spielt Kroos jetzt immer.

„Die letzten vier Jahre sind hervorragend gelaufen. Das zeigt sich an der Konstanz der Leistung und am Erreichten: den Titeln. Von daher bin ich mit der Entwicklung hochzufrieden“, sagt Kroos.

Italien hat kein dominantes Team

An ihm und seiner Position lässt sich auch gut erzählen, welch unterschiedliche Spielkulturen im EM-Viertelfinale aufeinander treffen: Deutschland spielt einen Toni-Kroos-Fußball. Kein Team bei der EM hat mehr Pässe geschlagen (2586). Italien dagegen hat keinen Pirlo mehr, sondern dort, wo der einst weilte, und nach dem wahrscheinlichen Ausfall von Daniele de Rossi einen Abräumer. Nur 1626 Pässe hat Italien bisher gespielt. Das ist kein Team der Dominanz.