Berlin/Essen/Vest. 70 Euro für das Sparschwein einer Dreijährigen - das ist das Ergebnis im Berliner Ohrloch-Prozess. Die Eltern hatten Schmerzensgeld verlangt, nachdem sie dem Stechen zunächst zugestimmt hatten. Das Urteil sorgt für heftige Debatten - auch mit Blick auf das jünste Beschneidungsurteil.
Der juristische Streit um Schmerzensgeld für eine Dreijährige wegen gesundheitlicher Beschwerden nach dem Stechen von Ohrlöchern ist mit einem Vergleich zu Ende gegangen. Vor dem Amtsgericht Berlin-Lichtenberg einigten sich die streitenden Parteien am Freitag darauf, dass die Inhaberin des Piercing- und Tattoo-Studios an das Mädchen 70 Euro für dessen "Sparschwein" zahlt.
Ob der Fall strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, blieb noch offen. Das Mädchen hatte sich nach Angaben der Eltern zum Geburtstag die Ohrlöcher gewünscht. Die Eltern stimmten zu. Später verklagten Mutter und Vater stellvertretend für die Minderjährige die Inhaberin des Tattoo-Studios, weil die Tochter bei der Prozedur Schmerzen erlitten und noch Tage später traumatische Reaktionen gezeigt hätte.
Piercer sehen Eltern in der Pflicht
Unter Ärzten und Piercern sorgt der Fall für heftige Diskussionen. Martina Lehnhoff sieht grundsätzlich in erster Linie die Eltern in der Pflicht, ihre Kinder über mögliche Folgen von Körperschmuck aufzuklären. Sie ist Vorsitzende des Europäischen Berufsverbands Professionelles Piercing e.V. (EAPP). "Ein dreijähriges Kind ist nicht in der Lage, sich wirklich vorzustellen, was dieser Eingriff bedeutet", sagt sie weiter.
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Auch Studios und Juweliere müssten Sensibilität beweisen. Seriöse Piercer ihres Verbandes würden niemandem unter 14 Jahren Ohrlöcher schießen, betont Lehnhoff. "Natürlich finden kleine Mädchen Ohrringe schön, aber sie begreifen den Weg dahin noch nicht", stellt sie klar.
Professor Michael Paulussen, Leiter der Vestischen Kinder- und Jugendklinik, kann das Berliner Tattoo-Studio hingegen verstehen. "Die Eltern wären sonst vielleicht einfach in ein anderes Studio gegangen", sagt er. "Dabei sollte jedem mit gesundem Menschenverstand klar sein, dass niemand ein Ohrloch stechen kann, ohne eine minimale Verletzung zuzufügen."
Ärzte diskutieren über Ohrloch-Verbot für Kinder
Der Berufsverband für Kinder- und Jugendärzte hat indes gefordert, dass das Ohrlochstechen bei Kindern verboten werden soll. "Ohrlochstechen, Tätowierungen und Piercings bei Minderjährigen sind aus unserer Sicht Körperverletzung", sagt BVKJ-Präsident Wolfram Hartmann. Auch beim Stechen von Ohrlöchern könne es zu Entzündungen und Verletzungen kommen. "Das Ohrläppchen enthält ja relativ viel Knorpel und dadurch entzündet sich das sehr heftig", sagt Hartmann.
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Zudem könnten sich Kinder beim Spielen verletzen. "Ein Erwachsener ist in der Regel vorsichtiger", sagte Hartmann. Er regte an, die gesetzliche Altersgrenze für das Ohrlochstechen bei 14 Jahren anzusetzen. "Bei Piercings wäre ich da etwas zurückhaltender", fügte der Kinderarzt hinzu.
Ein solches Verbot fände Dr. Thomas Fischbach übertrieben. Der Vorsitzende des NRW-Landesverbandes für Kinderärzte appelliert an Eltern, ihre Fürsorgepflicht ernstzunehmen: "Letztlich müssen die Eltern individuell entscheiden, ob ihr Kind die Situation wirklich schon erfassen und begreifen kann." Ohrringe würden zwar keinem übergeordneten Zweck dienen, aber: "Sie sind nun mal in vielen Kulturkreisen üblich."
Sind Ohrringe und Beschneidung vergleichbar?
Diesen kulturellen Aspekt betrachtet Professor Paulussen als Schnittstelle zum sogenannten Beschneidungsurteil. "Einerseits gibt es keine kulturelle Vorschrift, die etwa besagt, dass Mädchen erst mit Ohrringen in die Gesellschaft aufgenommen werden können." Das ist bei gläubigen Juden und Muslimen anders: Die rituelle Beschneidung ist nichts, was sie sich frei aussuchen können. "Aber ob diese Unterscheidung in der heutigen Zeit noch relevant ist, darüber kann man diskutieren", sagt Paulussen.
Der Richter im Ohrloch-Prozess hatte ebenfalls auf das Beschneidungsurteil des Landgerichts Köln Bezug genommen. Er sagte vor dem Prozess, er werde prüfen, inwiefern sich die Beteiligten, also auch die Eltern des Kindes, der Körperverletzung strafbar gemacht haben. Aus seiner Sicht ist es "zweifelhaft", ob das Ohrlochstechen dem Kindeswohl diente. (mit Material von dapd)