Duisburg. Drei Vorstände müssen gehen, vier Aufsichtsräte schmeißen hin, auch Sigmar Gabriel. Aber nicht ohne ein Scherbengericht mit López und Russwurm.

Bevor er den Rückzug antritt, ergreift Sigmar Gabriel noch einmal das Wort und spricht zu einer Gruppe von Stahl-Beschäftigen, die am Donnerstagabend vor der Konzernzentrale von Thyssenkrupp Steel ausgeharrt hat. Es sind Worte des Abschieds, aber Gabriel will auch Mut machen. Ohne die Belegschaft könne kein Unternehmen bestehen, sagt er, schickt ein „macht’s gut, Glückauf“ hinterher. Sein ebenfalls zurückgetretener Aufsichtsratsvize Detlef Wetzel reckt zum Abschied die Faust nach oben.

Die Beschäftigten, zu denen der frühere SPD-Chef spricht, fühlen sich seit Wochen im Machtkampf zwischen Konzernchef Miguel López und Stahl-Chef Bernhard Osburg zerrieben. Und da es nie ihre Art war, das im Stillen mit sich selbst auszumachen, überrascht es in Duisburg niemanden, dass die Stahlkocher der Eskalation nicht tatenlos zusehen.

Vier Aufsichtsratsmitglieder und drei Vorstände gehen

Zu Hunderten sind sie zur TKS-Zentrale gezogen, in der am Donnerstag der Aufsichtsrat tagt. Es kam wie befürchtet: Mit Bernhard Osburg, Markus Grolms und Logistikchefin Heike Denecke-Arnold müssen drei Vorstandsmitglieder gehen. Und am Abend erklären nach der Sitzung vier Aufsichtsräte ihren Rücktritt. Darunter Chefkontrolleur Gabriel und sein Stellvertreter, der frühere IG-Metall-Chef Detlef Wetzel.

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Sigmar Gabriel wirft als Aufsichtsratschef hin.
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Zuvor haben sie drinnen vor der Presse ihr Scherbengericht über Konzernchef Miguel López und Konzern-Chefaufseher Siegfried Russwurm gehalten, während die Leute draußen „López raus!“ skandierten. Der war nicht nach Duisburg gekommen, wie Gabriel bestätigte - und dazu sagte: „Jeder macht sich so klein, wie er kann.“

Es war ein denkwürdiger Tag in Duisburg. Gabriel wird bei seinem Abgang von Stahlkochern geherzt, er war einer, der vor der letzten Aufsichtsratssitzung vor drei Wochen zu ihnen runterkam und sogar die Fackel der Mahnwache in die Hand nahm. Jetzt wirft er hin und mit ihm sechs weitere Top-Manager von TKS. Und wünscht den Leuten, „dass Ihr so gute Vorstände bekommt, wie Ihr gehabt habt. Und dass Ihr bessere Eigentümer bekommt, als Ihr jetzt habt“.

Gabriel kam als Hoffnungsträger zu Thyssenkrupp Steel

Der frühere SPD-Chef vertritt im Aufsichtsrat von Thyssenkrupp Steel als Vorsitzender formell die Kapitalseite. Als solcher machte er als einer der ersten bei TKS unmissverständlich klar, dass es eine harte Sanierung brauche, einen deutlichen Abbau von Kapazitäten und Arbeitsplätzen, um den Stahl fit für die Selbstständigkeit zu machen. Freilich dachte er dabei an die von Stahlchef Bernhard Osburg errechneten Zahlen, die dem Konzernchef Miguel López nicht weit genug gehen.

Entsprechend ging Gabriel zunehmend auf Abwehrkurs gegen López, weshalb die Stahlkocher ihn als einen der ihren wahrnahmen. Schon als der frühere Vizekanzler Gabriel sich vor etwas mehr als zwei Jahren in den Dienst von Thyssenkrupp Steel stellte, waren ihre Hoffnungen groß. Beim Start von Gabriel im Frühjahr 2022 befand sich der Konzern bereits in einer brenzligen Lage.

Mit dem Krieg in der Ukraine wuchsen die Probleme

Wegen des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine geriet der Industriekoloss, der stark von der Konjunkturentwicklung und insbesondere der Automobilindustrie abhängig ist, massiv unter Druck. Der erfahrene Krisenmanager und Diplomat Gabriel schien da genau zur richtigen Zeit nach Duisburg gekommen zu sein.

Für die Konzernstrategen der Stahlsparte war es auch ein Signal der Unabhängigkeit. Nicht mehr ein Manager vom Mutterkonzern in Essen, zu diesem Zeitpunkt unter der Führung von Martina Merz, sondern ein profilierter, eigenständiger Mann von außen übernahm bei der Stahlsparte die Führung des wichtigsten Kontrollgremiums.

Gabriel war ein etwas anderer Aufsichtsratschef

Gabriel, der auch Aufsichtsratsposten bei der Deutschen Bank und Siemens Energy hat, investierte viel Zeit in sein Engagement bei Thyssenkrupp Steel. Erst war es öffentlich recht ruhig um ihn, später zeigte er sich sich als Vorkämpfer für eine eigenständige Aufstellung des Stahls. Agieren Aufsichtsratsvorsitzende in Deutschlands Industrie meist im Verborgenen, ging Gabriel einen anderen Weg. Er gab Interviews, bestritt Pressekonferenzen.

Gabriel war es auch, der bei Thyssenkrupp Steel die unangenehmen Botschaften verkündete. Im Interview mit unserer Redaktion erklärte er vor einigen Wochen, dass der Stahlkonzern seine Produktionskapazitäten spürbar verkleinern werde. Nach der Aufsichtsratssitzung vom 9. August wiederum berichtete Gabriel kaum verklausuliert, dass Thyssenkrupp Steel die Verbindungen zu den Hüttenwerken Krupp Mannesmann (HKM) kappen will – entweder durch einen Verkauf oder durch eine Schließung. Immerhin gibt es mit CE Capital Partners einen ernsthalften Interessenten aus Hamburg, wie unsere Redaktion recherchierte.

Obwohl Gabriel Einschnitte mittrug und auch verkündete, pflegte er ein gutes Verhältnis zu den Arbeitnehmervertretern. Sein Verhältnis zum stellvertretenden Steel-Aufsichtsratschef Detlef Wetzel, der nun die Brocken hinwirft, gilt als ausgezeichnet. Zum Vergleich: Im Konzern haben sich Chefkontrolleur Siegfried Russwurm und sein Vize Jürgen Kerner von der IG Metall zuletzt in öffentlichen Statements gegenseitig attackiert.

Gabriel – auch ein Gegenpol zu Russwurm bei Thyssenkrupp

In einem Statement warfen Russwurm, Krupp-Stiftungs-Chefin Ursula Gather und die anderen Kapitalvertreter im Konzernaufsichtsrat der IG Metall Panikmache und Verantwortungslosigkeit vor. Kerner machte „allein das rücksichtslose, intransparente und unprofessionelle Agieren von Herrn Lopez und Herrn Russwurm“ für die Eskalation verantwortlich.

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Russwurm, der auch an der Spitze des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) steht, hat zwei Mal innerhalb kurzer Zeit im Aufsichtsrat der Thyssenkrupp AG wichtige Entscheidungen gegen das Votum der Arbeitnehmervertreter in Essen mit seiner „Doppelstimme“ durchgesetzt – unter anderem beim Einstieg des tschechischen Geschäftsmanns Daniel Kretinsky in der Stahlsparte. Gabriel pflegte im TKS-Aufsichtsrat eher den entgegengesetzten Stil.

Was macht Daniel Kretinsky jetzt?

Der tschechische Milliardär war, anders als Konzernchef López, am Donnerstag nach Duisburg gekommen, um an der Aufsichtsratssitzung teilzunehmen. Wie der verschwiegen Unternehmer das Erdbeben bei TKS, an dem er 20 Prozent hält und auf 50 Prozent aufstocken will, bewertet, bleibt einstweilen sein Geheimnis. Was wer im Aufsichtsrat sagt, ist geheim. Gabriel meinte anschließend immerhin, natürlich sei Kretinsky nicht glücklich über das, was bei TKS geschehe. Wetzel äußerte indirekt Zweifel daran, ob er in einem Unternehmen ohne Plan investiert bleiben wolle.

Kretinsky hat eine Ausstiegsklausel. Sollte er die ziehen, könnte López mit seinen Plänen für den Stahl wieder bei Null anfangen. Er habe mit „kein einziges Problem gelöst“, sagte Wetzel, „aber mit der Abberufung des Vorstands 50 neue Probleme geschaffen“.

Ohne die Spitzen in Vorstand und Kontrollgremium steht nun ein Umbruch bevor, der wohl tiefgreifend sein wird. Ein neues Bollwerk widerspenstiger Stahl-Manager werden Russwurm und López im Essener Quartier kaum dulden.

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