Essen. In keinem Bundesland zahlen Menschen so viel fürs Heim wie in NRW. Zuschüsse helfen, doch ein Kernproblem bleibt erhalten.

  • Innerhalb von nur sechs Monaten sind die Eigenanteile in NRW-Pflegeheimen erneut gestiegen.
  • Laut Verband der Ersatzkassen liegt der Eigenanteil inzwischen bei durchschnittlich 3444 Euro. Rechnet man die vom Bund garantierten Rabatte dazu, fallen immer noch 3200 Euro im ersten Jahr des Aufenthalts an.
  • Experten erinnern Bewohnerinnen und Bewohner an ihre Rechte.

Ulrich Christofczik ist ein Mann klarer Worte und er macht auch diesmal keinen Hehl aus seinem Ärger: „Die aktuelle Kostensteigerung kann man niemandem mehr erklären“, sagt der Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg mit 16 stationären Pflegeeinrichtungen. „Wenn Sie die Abrechnungen erstmals sehen, fallen Sie tot um.“

Auch für seine Duisburger Pflegeheime sind 2024 die sogenannten Eigenanteile erheblich gestiegen. Bewohnerinnen und Bewohner müssen für ihre Pflege im Heim also deutlich mehr aus eigener Tasche beisteuern. Christofczik spricht von bis zu 70 Prozent höheren Zuzahlungen in einzelnen Heimen, die die Evangelische Altenhilfe den Bewohnenden in Rechnung gestellt habe. „Die Angehörigen laufen Sturm und ich kann das verstehen“, so der langjährige Pflege-Chef. In Duisburg gebe es inzwischen Heime, in denen 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner Sozialleistungen beziehen, weil sie das Leben dort nicht mehr allein bezahlen können.

„Das ist kein Zustand, wie wir ihn wollen“, sagt Christofczik. „Träger müssen alle Kostensteigerungen eins zu eins an die Bewohner weitergeben, weil die Leistungen der Pflegekassen gedeckelt sind. Das bemängeln wir seit Jahren.“

Heimbewohner zahlen in NRW zwischen 3200 und 2226 Euro dazu

Das Leben im Pflegeheim entwickelt sich für pflegebedürftige Menschen und ihre Familien tatsächlich zu einem immer größeren finanziellen Risiko. Trotz Kostenbremsen des Bundes müssen Heimbewohnerinnen und Heimbewohner immer mehr Geld aus ihrer eigenen Tasche dazu bezahlen. Das geht aus aktuellen Zahlen des Verbandes der Ersatzkassen (Vdek) zum 1. Juli hervor. NRW gehört erneut zu den teuersten Bundesländern.

Laut Vdek zahlen Pflegebedürftige aktuell in NRW im ersten Jahr ihres Heimaufenthalts durchschnittlich 3200 Euro pro Monat selbst dazu – vor einem halben Jahr warn es noch 2.892 Euro. Menschen, die bereits länger als 36 Monate vollstationär gepflegt werden, müssen in NRW immer noch 2226 Euro selbst beisteuern – 119 Euro mehr als vor einem halben Jahr. Zum Vergleich: Im Bundesdurchschnitt zahlen neu eingezogene Heimbewohner 2871 Euro dazu, ab dem 36. Monat, sprich dritten Jahr, sind es 1865 Euro.

Ohne Zuschüsse müssten Heimbewohner in NRW noch mehr bezahlen

Zu diesem Plus kommt es, obwohl Eigenanteile mit dem Jahreswechsel stärker als zuvor bezuschusst werden. Seit 2022 zahlen die Pflegekassen Zuschläge, die mit längerem Heimaufenthalt steigen. Die Zuschläge sind zum 1. Januar 2024 gestiegen. Den Eigenanteil für die reine Pflege drückt das im ersten Jahr im Heim nun um 15 statt bisher 5 Prozent, im zweiten um 30 statt 25 Prozent, im dritten um 50 statt 45 Prozent und ab dem vierten Jahr im Heim um 75 statt 70 Prozent. In NRW wäre der Eigenanteil ohne die höheren Entlastungen im Durchschnitt sogar um 321 Euro höher ausgefallen.

„Es ist gut, dass die Leistungszuschläge angepasst worden sind, um die Kostensteigerung aufzufangen“, sagt Daniela Mruck, Leiterin des Referats Pflege beim Vdek NRW. „Sonst wären die Erhöhungen eins zu eins an die Pflegebedürftigen übergangen.“

Wohl auch dank der Zuschläge ist die Zahl der Heimbewohner, die Sozialleistungen („Hilfe zur Pflege“) beantragen mussten, in NRW sogar kurzzeitig gesunken - 2022 um 14 Prozent im Vergleich zu 2021. Dass es nun aber nicht gelungen ist, die aktuell so deutlich gestiegenen Kosten gänzlich aufzufangen, liegt nach Einschätzung von Beobachtern an der starken Inflation und hohen Tarifabschlüssen.

Teures Leben im Pflegeheim: Personal macht 80 Prozent der Kosten aus

Anders als bei der Krankenversicherung decken die Leistungen der Pflegekassen nur einen Teil der Pflegekosten. Alles darüber hinaus tragen die Bewohnerinnen und Bewohner selbst in den sogenannten Eigenanteilen. NRW gehört seit Jahren zu den teuersten Bundesländern für Heimbewohner.

Als Hauptgrund werden immer wieder Personalkosten genannt. Sie machen branchenweit etwa 80 Prozent der Ausgaben einer Einrichtung aus und schlagen in NRW so sehr zu Buche, weil das Bundesland eine hohe Fachkräftequote und überdurchschnittlich viele tarifgebundene Betreiber hat. Seit 2022 müssen sich private Träger zwar an ortsüblichen Tarifen orientieren. Tarifleistungen wie Inflationsausgleichsprämien sind laut Experten für Private aber freiwillig.

Die Eigenanteile berechnen sich aus drei Quellen: den Investitionskosten, den Kosten für Unterbringung und Verpflegung sowie dem sogenannten einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEE). Letzteres ist ein Wert, der von Heim zu Heim unterschiedlich ist, der aber für alle Bewohner, egal wie pflegebedürftig sie sind, gleich hoch ausfällt. Er wird mit den Pflegekassen verhandelt und beinhaltet auch Pflegepersonalkosten. Sie sind durch Tarifabschlüsse und gesetzliche Änderungen gestiegen, aber auch durch den Fachkräftemangel, den Träger mit teurer Leiharbeit ausgleichen müssen. In NRW liegt der sogenannten EEE im Durchschnitt aktuell bei 1624 Euro (ohne Zuschüsse), 316 Euro mehr als noch zum Jahresanfang.

Folgen der Inflation: Rund 1200 Euro monatlich nur für Unterbringung und Verpflegung

Mit 1215 Euro fallen Kosten für Unterbringung und Verpflegung in NRW überdurchschnittlich stark ins Gewicht (plus 22 Euro seit 1. Januar) – darin stecken die gestiegenen Heizkosten, aber auch Personalkosten für Küche oder Verwaltung, höhere Lebensmittelkosten und Sachkosten wie Wäscherei und Reinigung.

„Würden die einzelnen Bundesländer ihre politischen Vorhaben endlich umsetzen und die Investitionskosten übernehmen, würden die Pflegebedürftigen in NRW um aktuell 587 Euro monatlich entlastet.“

Dirk Ruiss
Leiter der Vdek-Landesvertretung NRW

Bei den Investitionskosten bitten NRW-Heimbetreiber ihre Bewohner seit Jahren überdurchschnittlich stark zur Kasse: Mit 605 Euro monatlich wurden Bewohner zum Ende des ersten Halbjahrs über eine Umlage an Modernisierungen und Anschaffungen beteiligt, deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt. Modernisierungen müssen in NRW schneller abgeschrieben werden, auch höhere Grundstückspreise spielen laut Fachleuten eine Rolle.

1400 Euro mehr fürs Pflegeheim: Angehörige suchen Beratung

Aus Sicht des Vdek NRW würde es Betroffenen schon helfen, wenn die Länder die Investitionskosten der Heime vollständig übernehmen. Dass die Eigenanteile, liege auch daran, dass das Land seine Verantwortung ignoriere, sagt Dirk Ruiss, Leiter der Vdek-Landesvertretung NRW. „Gegenüber den Vorjahren sind die Investitionskosten um 33 Euro auf nun 605 Euro monatlich gestiegen. Allein die Übernahme dieser Kosten, wie gesetzlich vorgesehen, würde Heimbewohnerinnen und –bewohner entlasten.” In NRW gibt es die Besonderheit, dass Heimbewohner Pflegewohngeld beantragen können. Darüber lassen sich Investitionskosten abdecken.

Die steigenden Eigenanteile verunsichern Angehörige zunehmend. Beim Pflegeschutzbund BIVA melden sich immer mehr Betroffene mit der Bitte um Beratung. 2023 registrierte der BIVA-Beratungsdienst gut 1.200 Beratungen zu Entgeltfragen. 2021 waren es keine 600. Auffallend sei nicht nur die schiere Menge, sondern auch die Höhe der diskutierten Preissteigerungen: Waren es früher im Schnitt 200 bis 300 Euro, um die sich der Eigenanteil erhöht habe, seien es jetzt in Einzelfällen sogar bis zu 1.400 Euro pro Monat, so ein Sprecher.

Der Pflegeschutzbund erinnert Bewohnerinnen und Bewohner an ihre Rechte: Erhöhungen müssen vier Wochen vorher angekündigt werden, sonst sind sie nicht wirksam. Die Schreiben müssen zudem bestimmte Voraussetzungen erfüllen – alte und neue Kosten müssen gegenübergestellt werden. Bewohner müssen einer Erhöhung zustimmen und können auch nur unter Vorbehalt zahlen.

Ulrich Christofczik ist Sprecher der Ruhrgebietskonferenz Pflege und Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg mit 16 stationären Pflegeeinrichtungen.
Ulrich Christofczik ist Sprecher der Ruhrgebietskonferenz Pflege und Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg mit 16 stationären Pflegeeinrichtungen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Sozialverband VdK warnt vor Armutsrisiko: Pflegevollversicherung ist nötig

Der Sozialverband VdK NRW warnt eindringlich davor, dass Pflege zu einer Armutsfalle wird. „Die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen steigt von Jahr zu Jahr kontinuierlich“, sagt Martin Franke, Referent für Sozialpolitik. „Der einzige Ausweg aus dieser Kostenfalle ist eine Pflegevollversicherung, sodass alle pflegebedingten Kosten in der ambulanten und stationären Pflege vollständig übernommen werden.“ In NRW bezieht etwas weniger als ein Drittel der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner die Sozialleistung „Hilfe zur Pflege“, in vielen Einrichtungen des Ruhrgebiet sind es 70 Prozent und mehr.

In Duisburg wirbt auch Ulrich Christofczik für einen Systemwandel: „Wir müssen in Deutschland endlich zu der Regelung kommen, die Eigenanteile der Heimbewohner zu deckeln, sodass die Pflegeversicherung Kostensteigerungen übernimmt“, ist sich der Pflegefachmann und Sprecher der Ruhrgebietskonferenz Pflege sicher.

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