Essen. Premiere für Verdis neue Taktik: Gleichzeitige Streiks im Nahverkehr, Handel und an Flughäfen. Warum das grenzwertig ist. Eine Analyse.
Auch wenn es sich in diesen Wochen anders anfühlt: Deutschland ist kein Streikland. Etwa zehnmal so häufig wie hierzulande gehen Menschen in Frankreich auf die Straße, auch in Spanien, Skandinavien und Großbritannien wird wesentlich häufiger gestreikt. Den Rückstand aufzuholen, bemüht sich in Deutschland offensichtlich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Am Donnerstag und Freitag ruft sie im NRW-Handel und im Nahverkehr gleichzeitig zum Streik auf. Zudem legt ebenfalls bis Freitag das Bodenpersonal der Lufthansa die Arbeit nieder. Es ist die Premiere für ihre den Arbeitgebern angedrohten konzertierten Arbeitsniederlegungen. Darf Verdi das? Und wenn ja, ist das auch okay?
Zumindest spricht kein Gesetz dagegen, denn es gibt keines, dass dies klar regeln würde. Das deutsche Streikrecht ergibt sich aus der Rechtsprechung. Ob ein Streik erlaubt ist oder nicht, müssen häufig Gerichte entscheiden, im Zweifel das Bundesarbeitsgericht. Aus der im Grundgesetz im Artikel 9 hinterlegten Koalitionsfreiheit zur Durchsetzung besserer Arbeitsverhältnisse ergibt sich grob umrissen ein Recht auf Streik etwa für höhere Löhne oder niedrigere Arbeitszeiten.
Gemeinsame Streiks sind zumindest nicht verboten
Aus der Rechtsprechung ergibt sich bisher, dass nur für eigene Tarifverträge gestreikt werden darf. Politische Streiks oder gar Generalstreiks, wie sie Frankreich kennt, sind nicht vorgesehen. Ob sich verschiedene Branchen, die sich gleichzeitig in Tarifverhandlungen befinden, zusammentun dürfen, ist bisher nicht geregelt, mithin auch nicht verboten.
Wie effektiv solche gemeinsamen Streiks sein können, zeigten erstmals Verdi und die Eisenbahnergewerkschaft EVG zum Leidwesen Hunderttausender Pendler und Reisender vor knapp einem Jahr. Sie legten ihre Warnstreiks im Flugverkehr, Fern- und Regionalverkehr der Bahn sowie im öffentlichen Nahverkehr zusammen - und damit den Verkehr bundesweit lahm.
Zumindest Verdi scheint daran Gefallen gefunden zu haben und hat in NRW jüngst angekündigt, mit konzertierten Streikaktionen den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen zu wollen. Da Verdi für sehr viele Branchen verantwortlich ist, fallen oft Tarifauseinandersetzungen zusammen und lassen sich so verbinden. Doch die Premiere mit Streiks in Handel und Nahverkehr wird nicht ansatzweise den sich selbst verstärkenden Effekt haben wie der mit den Eisenbahnern vor einem Jahr. Denn so unterschiedlich wie die Branchen ist auch die jeweilige Streikmacht von Verdi. Die konzertierten Streiks wirken daher eher wie eine Verzweiflungstat für den Einzelhandel, in dem Verdi seit neun Monaten im Tarifstreit mit den Arbeitgebern feststeckt.
Streiks nach der ersten Runde als Machtdemonstration
Das zeigt der bisherige Verlauf überdeutlich: Im Nahverkehr rief Verdi das Bus- und Bahnpersonal gleich nach der ersten Tarifrunde zum Warnstreik auf, obwohl kurze, abtastende Auftaktgespräche zur gemeinsamen Tariffolklore gehören. Es war und ist eine Machtdemonstration, denn die meisten Fahrerinnen und Fahrer machen mit und bringen so den Nahverkehr leicht zum Erliegen.
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Im Einzelhandel dagegen ruft Verdi seit Monaten immer wieder zu Ausständen auf, ohne dass deshalb Supermärkte oder Modeläden in nennenswerter Zahl hätten schließen müssen. Etwas effektiver ist sie im Großhandel, also den Warenlagern, weshalb es in den Regalen der Supermärkte immer wieder Lücken gibt. Das hat aber zumindest bisher nicht gereicht, die Arbeitgeber nachhaltig zu beeindrucken.
Ungleiche Verhandlungsmacht in Handel und Nahverkehr
Entsprechend dünn ist die Begründung von Verdi für die konzertierte Streikaktion: Die beiden Branchen verbinde die hohe Arbeitsbelastung, die Arbeit im unmittelbaren Kundenkontakt sowie entgrenzte Arbeitszeiten. Das mag so sein, aber für den Nahverkehrsstreik ist es völlig unerheblich, ob auch einige wenige Kassiererinnen oder Textilverkäufer gleichzeitig streiken. Umgekehrt macht es eher den Eindruck des Aufmerksamkeits-Buhlens.
Damit demonstriert die Gewerkschaft Verdi vor allem das Dilemma, in dem sie steckt. Und ihr Konzept, ihm zu entfliehen. So hat die vor mehr als 20 Jahren gegründete Multibranchen-Gewerkschaft etwa im Öffentlichen Dienst eine sehr starke Verhandlungsmacht, weil die Mehrheit der Beschäftigten Verdi-Mitglieder sind. In vielen anderen Branchen aber, vor allem in Dienstleistungsberufen wie dem Handel, ist ihr Organisationsgrad niedrig, sind die meisten Unternehmen nie in einem Flächentarif gewesen oder aus ihm geflohen.
Der Weg härterer Streiks scheint sich für Verdi auszuzahlen
Den von Verdi-Gründer Frank Bsirske begonnenen Weg, früher und härter zu streiken, hat sein Nachfolger Frank Werneke übernommen, um dies zu ändern. Denn oft treten Beschäftigte Gewerkschaften während eines Tarifkonfliktes bei, um mit ihren Kolleginnen und Kollegen streiken zu dürfen und Streikgeld für den entgangenen Lohn zu erhalten. Allmählich scheint diese Taktik aufzugehen: Nachdem Verdi seit der Gründung 2001 rund eine Million Mitglieder verloren hat und der IG Metall als größte Gewerkschaft vorbeiziehen lassen musste, drehte sie den Trend 2023 erstmals um. Rund 40.000 kamen unterm Strich hinzu, so dass es wieder fast 1,9 Millionen sind.
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Das führt Verdi selbst zumindest indirekt auf vermehrte Streiks zurück. Im Transparenzbericht für 2023 meldet sie stolz: „Es vergeht kaum ein Tag, an dem Verdi nicht in den regionalen oder überregionalen Nachrichten oder auf den digitalen Plattformen wie Facebook, Twitter („X“, Anmerkung der Redaktion), Instagram und Co. mit Streikmeldungen sichtbar ist.“
Verdi betritt mit Streiks zur Mitgliedergewinnung Grauzone
Damit allerdings betritt die Gewerkschaft bewusst eine Grauzone des praktizierten Streikrechts. Denn Warnstreiks sollen immer verhältnismäßig und das letzte Mittel sein, wenn die Verhandlungen völlig festgefahren oder gar gescheitert sind. Kurzum: Streiks dürfen kein Selbstzweck sein, etwa um Mitglieder zu akquirieren.
Die Gerichte lassen ihnen dabei in aller Regel großen Spielraum. Dass aber Arbeitgeber Warnstreiks nach der ersten Runde unverhältnismäßig finden, ist ob der bisherigen Tradition nachvollziehbar. Und das Verständnis in der Bevölkerung schwindet wie bei den Bundes-Lokführern inzwischen auch im Nahverkehr.
Tarifautonomie ist ein Glücksfall für Deutschland
Die Tarifautonomie ist auch ohne Streikgesetz ein Glücksfall für Deutschland, sie führt meist zu fairen Kompromissen für Arbeitgeber und Beschäftigte, sie entlastet mit ihrem geringen Streikaufkommen unsere Volkswirtschaft. Doch letztlich getragen wird dieses Erfolgsmodell von seiner breiten Akzeptanz. Die sollte niemand aufs Spiel setzen. Weder Arbeitgeber, die etwa im Handel das Konsensmodell mit ihrer Tarifflucht aushebeln. Noch Gewerkschaften mit Frühstarts in den Streikmodus. Denn der Ärger der Pendler trifft die Falschen, er wird den Bus- und Bahnfahrern im Nahverkehr nicht gerecht. Ihre Arbeitsbedingungen müssen in der Tat besser werden.