Kreis Wesel. Als frischgewählter Bundestagsabgeordneter hat Rainer Keller seine erste Woche in der Hauptstadt erlebt. Der Weseler zeigt sich beeindruckt.
Die erste Woche ist geschafft: Rainer Keller, frischgebackener Bundestagsabgeordneter der SPD für den Wahlkreis Wesel I hat ein wenig Parlamentsluft geschnuppert. Und, wie war das? „Wenn man nach Berlin kommt und zum ersten Mal ins Reichstagsgebäude kommt – da ist schon ein leichter Schauer“, sagt der Weseler, „es gibt so viele Eindrücke zu verarbeiten. Ein wenig ist das ein Gefühl wie so ein Schuljunge am ersten Schultag. Wenn man dort keine Leute hat, die einen an die Hand nehmen, ist man verloren.“
Die schiere Größe des Parlamentsbetriebes sei erstaunlich, die enorme Weitläufigkeit. „Die gesamte Verwaltung und die Abgeordnetenbüros sind untertunnelt, die Wege führen zum Plenarsaal.“ Er habe sich schon überlegt, mit GPS zu navigieren, scherzt der 55-Jährige, „man ist dort regelrecht lost“.
Jede Menge Aufgaben stehen gleich zu Beginn an
Doch natürlich gab es Menschen, die die Neuen – 104 der insgesamt 206 SPD-Fraktionsmitglieder – an die Hand genommen haben. „Die NRW-Landesgruppe fängt uns auf. Die Mitarbeiter sind sehr motiviert, geben Tipps und beantworten mit einer Engelsgeduld wirklich jede Frage.“ Themen wie „muss ich den Arbeitsplatz kündigen?“ (Nein) oder wie läuft das mit der Krankenversicherung? Die Zuordnung der Büros und andere Aufgaben warten auf die Abgeordneten. „Wenn man da allein stünde, wäre man verloren.“
Zunächst geht es jetzt für Keller und seine Mitstreiter darum, sich zu organisieren, ein Büro einzurichten, Mitarbeiter zu finden, erste Bewerbungsgespräche zu führen. Es gab bereits eine gemeinsame Sitzung der alten und der neuen SPD-Bundestagsfraktion, dazu ein Vorgespräch mit der NRW-Landesgruppe, die knapp ein Viertel aller SPD-Mandate stellt, „da kennt man längst nicht jeden“, so Keller.
In der Fraktion positionieren, um Einfluss zu bekommen
Neben den organisatorischen Herausforderungen gilt es in diesen Tagen auch, sich zu positionieren und Einfluss zu sichern. In der Fraktion gibt es den Seeheimer Kreis – eher konservativer Teil der SPD-Fraktion, das Netzwerk Berlin, einst als Gruppe jüngerer Abgeordneter gegründet und eher pragmatisch orientiert, und die Parlamentarische Linke – zu letzterer zählt sich Rainer Keller. Es gilt, Netzwerke zu knüpfen, doch er hat vorgearbeitet. Völlig isoliert nach Berlin zu gehen, das wäre blauäugig, sagt er.
21 Plenarwochen gibt es im Jahr, heißt: Da wird Präsenz erwartet. Ein großer Anteil der Arbeit sei nicht selbstbestimmt. Keller beschreibt das Prozedere: Montags trifft sich die Landesgruppe, Donnerstag und Freitag sind Plenartage im Bundestag. Ausschüsse gibt es noch nicht, sie werden gebildet, wenn die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen ist. Damit rechnet Keller noch vor Weihnachten – dass Angela Merkel auch 2022 noch die Neujahrsrede halten könnte, wie derzeit gewitzelt wird, schließt der Kreis-Weseler Abgeordnete aus.
Vollgepackt sind die Tage in Berlin, die mitunter um 7.30 Uhr beginnen und lange dauern. „Zeit, dort Tourist zu sein, gibt es nicht“, so Keller, der aber Berlin aus seiner früheren Berufstätigkeit noch gut kenne.
Hoffnung auf Aufnahme in den Fachausschuss für Gesundheitspolitik
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Während des Gesprächs auf dem Großen Markt in Wesel gibt es immer wieder mal Unterbrechungen. „Herzlichen Glückwunsch, alles Gute!“, ruft ein Mann, ein anderer grüßt. Wie ist das, kann man seine Themen in einem solchen Riesenbetrieb überhaupt an- und unterbringen? Keller zeigt sich da guten Mutes. „Ich habe den Vorteil, sozialdemokratische Kernthemen aufzugreifen und sehe eine Chance, mich weiter einbringen zu können.“ Allerdings hänge das auch von den Gremien ab, in denen er mitwirken kann. „Ich bin ausgewiesener Gesundheitspolitiker und habe mich für den entsprechenden Ausschuss beworben.“
Jetzt heißt es abwarten. Beim anstehenden Koalitionsvertrag komme es darauf an, möglichst viele sozialdemokratische Themen in den Koalitionsvertrag zu bringen, erschwinglicher Wohnraum beispielsweise, die stabile Rente, die regionale Versorgung im Gesundheitswesen, zwölf Euro Mindestlohn etwa. „Man muss transparent sein. Die Rente beispielsweise ist ein Thema, das uns noch Jahrzehnte begleiten wird, wir können jetzt nur Fundamente legen“, so der Sozialdemokrat. „Das Rentensystem lässt sich nicht von heute auf morgen umbauen.“
Jetzt muss sich der Neuankömmling erstmal freischwimmen
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Auch bedeute eine Koalition Kompromisse, nicht alle Ziele aus dem Wahlprogramm könnten untergebracht werden. Möglich, dass die Menschen ihn dann auf der Straße kritisieren? Keller setzt auf Kommunikation, weiß aber auch, dass Shitstorms nicht ausbleiben werden. Wichtig für ihn sei es, weiterhin ansprechbar und präsent zu sein. „Die Leute wollen niemanden, der ihnen vom Podium herab die Welt erklärt“, sagt er, „sie brauchen jemanden, der zuhört.“ Das will er in der sitzungsfreien Zeit intensiv tun. Vor Ort in den Fußgängerzonen, mit den Fraktionen der Stadt- und Gemeinderäte – und zwar mit allen – und auf anderen Wegen. So interpretiere er sein Mandat: Nicht in Berlin nach höheren Weihen streben, sondern vor Ort herausfinden, wo der Schuh drückt.
Jetzt will sich Rainer Keller erstmal freischwimmen, „in Berlin bist Du ein Neuling, egal wie viel Berufserfahrung Du mitbringst. Ich bin heilfroh über die NRW-Landesgruppe.“ So habe der Essener Abgeordnete Dirk Heidenblut jetzt zunächst sein Büro mit ihm geteilt, vorerst auch seine Mitarbeiter.