Oberhausen. Die 70. Internationalen Kurzfilmtage trotzten der viel diskutierten Boykott-Kampagne mit einem erstaunlich entspannten „Business as usual“.
Zynisch gestimmte Menschen hätten in den letzten Tagen und Wochen dem Chef der Kurzfilmtage wohl gratuliert: Chapeau, Herr Gass, ein perfekter Coup, um das im 70. Jahr doch recht betagte, weltälteste Kurzfilm-Festival wieder in die Schlagzeilen zu bringen. Doch Lars Henrik Gass mit seinem hohe Wellen schlagenden Appell zur Solidarität mit dem am 7. Oktober brutal überfallenen Israel nun tatsächlich kühles Kalkül zu unterstellen, wäre in der Tat zynisch. Kühl kalkuliert, professionell aufgezogen und mit zynischer Konsequenz im weltweiten Netz verbreitet war vielmehr der anonyme Boykott-Aufruf. Und man kann nur erschrecken, wie reflexhaft und zugleich unreflektiert selbst manche Kreative, die Oberhausens Kurzfilmtage aus eigenem Erleben kennen, ihre Namen für die kaum verhüllte Rücktritts-Forderung hergaben.
Gleichzeitig gab es, in typisch Oberhausener Laissez-faire-Haltung, könnte man sagen, in der Stadt der Kurzfilmtage etliche Stimmen, die eine mediale Aufregung von den Berliner Hauptstadtzeitungen bis zur Neuen Zürcher Zeitung als „Sturm im Wasserglas“ bewerteten. Damit lagen sie falsch – und konnten sich paradoxerweise zugleich vom Verlauf der sechs Festivaltage bestätigt fühlen: Denn außer Taschen- und Rucksack-Kontrollen beim Einlass ins Kino präsentierte sich die große Bewegtbilderschau bis zur Verleihung ihrer 20 Preise geradezu betont als „Business as usual“.
Der Boykottaufruf und die relativ kleine Zahl zurückgezogener Filme waren nicht das überragende Gesprächsthema für die versammelte Szene der Kurzfilm-Schaffenden. Den oft sehr jungen Filmemachern war viel wichtiger: Sie erlebten „live“ die Reaktionen des Publikums, von Begeisterung bis Unverständnis oder Gesprächs-Bedarf. Und das genau ist der Punkt und die eigentliche Raison d’Être der Kurzfilmtage: miteinander ins Gespräch zu kommen, ganz unterschiedliche Blicke auf die Welt auszutauschen.
Eine Karriere-Schmiede sind die Kurzfilmtage nicht
Zwar gab es auch bei der 70. Preisverleihung wieder diese anrührenden bis amüsierenden Momente, wenn Jungfilmer schier überwältigt ihre Urkunde (plus ein Paar Sportsocken mit „Kufita“-Logo) in Empfang nehmen – und von ihren Eltern erzählen, die ihnen nie zugetraut hätten, dass sie es „in der Filmindustrie“ zu etwas bringen würden: „Und nun stehe ich hier!“. Als wäre dies die erste Stufe auf der großen Showtreppe zum Ruhm. Eine Karriere-Schmiede sind die Kurzfilmtage dezidiert nicht, wollen es auch nicht sein. Den klangvollen Namen der deutschen Autorenfilmer folgte in einem weiteren halben Jahrhundert des Festivals keinerlei ähnlich kräftig federndes Sprungbrett in den Kino-Himmel.
Die Kurzfilmtage haben sich in ihrer Nische eingerichtet, deren Bedeutung deshalb nicht zu unterschätzen ist: Der in Großbritannien hoch geschätzte John Akomfrah aus Ghana ist nämlich nicht der einzige, der in den letzten Jahren zwischen den Kurzfilmtagen und der Biennale di Venezia pendelte. Der heute 66-jährige Meister bildgewaltiger Inszenierungen brachte seine Kunst mit dem scheinbar widersprüchlichen Satz auf den Punkt: „Mein Ziel ist nicht, Kino zu machen. Jeder Zuschauer soll die Möglichkeit haben, sich allein in den Bildern zu verlieren.“
Der 70. Festival-Jahrgang zeigte berührende Geschichten
Zumindest bis zum Kleinkunst-Level drechselt auch der Festival-Chef seine Freude am Paradoxen: Der 58-jährige Lars Henrik Gass witzelt bei unpassendster Gelegenheit über das nahende „Ehrengrab“ – und scheint damit die Amtsmüdigkeit zu leben. Doch ein auf verquere Art effektiver Boykottaufruf bedeutet eben nicht das nahende Ende der Kurzfilmtage – ganz im Gegenteil. Der 70. Festival-Jahrgang präsentierte (nach manchen Vorjahres-Prämierungen, die man allenfalls als „anstrengend“ erleben konnte) überaus Erfreuliches – und das nicht nur im Kinderprogramm. Es sind berührende Geschichten, deren scheinbare Randthemen mit oft poetischer Eindringlichkeit auch die aktuelle Weltlage spiegeln: vom Animationsfilm „Boat People“ bis zur tragischen Bizarrerie des Bagdader „Hotel al Rasheed“.
Bedrückend bleibt allerdings der Umstand, dass die Haltung und der menschliche Anstand, mit der Lars Henrik Gass im Oktober reagierte, in dieser auf Hass und Intoleranz gepolten Zeit bereits als preiswürdig angesehen wird, wie es die Deutsch-Israelische-Gesellschaft empfand. Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.