Oberhausen. Die 70. Kurzfilmtage sind eröffnet: So viel Nachdenken über Demokratie und Freiheit war noch nie, so viel Sicherheitsvorkehrungen auch nicht.
Bazon Brock, der 87-jährige „Denker vom Dienst“, eröffnet den Prolog der 70. Kurzfilmtage am Mittag des ersten Mai mit der Frage: Wie kommen wir wieder ins Gespräch?
Erstaunlich, welch ein Themenspektrum sich in rund 20 Minuten einer „Schlüsselansprache“ - von den Gastgebern der 70. Internationalen Kurzfilmtage natürlich „Keynote Speech“ genannt - unterbringen lässt. Jedenfalls dann, wenn der Redner Bazon Brock heißt, den Ute Cohen als Moderatorin des Nachmittags ihrem Publikum im Zentrum Altenberg kurz und trefflich als „Denker vom Dienst“ vorstellte. Der 87-jährige Philosoph aus Wuppertal-Cronenberg sorgte Stunden vor der offiziellen Eröffnung am Mittwochabend für einen Prolog, wie ihn in Oberhausen - der Großstadt ohne Hochschule - wohl nur die Kurzfilmtage hinbekommen.
Als Entgegnung auf jenen Boykottaufruf, der das Traditionsfestival im Oktober 2023 traf, durcheilte der Vorzeige-Intellektuelle der alten Bundesrepublik in seiner Rede mal eben 600 Jahre europäischer Geistesgeschichte - und konstatierte: „Was verloren zu gehen scheint“, sei jene Herstellung von Öffentlichkeit, wie sie seiner Generation noch vertraut war: „Das entscheidende Medium der europäischen Aufklärung heißt Publikum.“
Gemeint ist: eine Debatte mit offenem Visier - kein anonym aufgesetztes Pamphlet, das flugs 2000 virtuelle Unterstützer findet, die mit dem attackierten Festivalchef Lars Henrik Gass, dem sie nebenbei den Rücktritt nahelegen, überhaupt nicht das Gespräch gesucht haben. Der unverhohlene Boykott-Aufruf gegen die Kurzfilmtage erfolgte nur deshalb, weil Gass wenige Tage nach dem Massaker der Hamas-Terroristen mit über 1200 israelischen Toten auf Facebook zur Solidarität mit Israel aufgerufen hatte.
Die internationalen Proteste gegen das Kurzfilm-Festival, die persönlichen Diffamierungen gegen Gass führten zu bisher noch nie dagewesenen Sicherheitsvorkehrungen zum Festivalauftakt: Taschen wurden mit einer Taschenlampe ausgeleuchtet, Polizeiwagen standen auf dem Weg zum Lichtburg-Kino, im Saal saßen am Mittwochabend Polizisten in Uniform und unerkannt in Zivil. Zuvor wurden sämtliche Eintrittskarten zur Eröffnungsveranstaltung nur per Namensnennung für jedes Ticket verkauft - um eine bessere Kontrolle zu ermöglichen. So sollte verhindert werden, dass Protestierende mit Aktionen die Veranstaltung undurchführbar machen. Und tatsächlich verlief die Eröffnung der 70. Kurzfilmtage völlig störungsfrei und unbehelligt.
„Wir werden herausgefordert“, sagte Bazon Brock in seiner Rede zur Mittagszeit, „uns auf etwas einzulassen, das mit Kunst nicht das Geringste zu tun hat.“ Auch die antiisraelischen Demonstranten an den US-Hochschulen, so der Denker, hätten an Kunstfreiheit nicht mehr das geringste Interesse: „Man hat dort längst entschieden, dass die europäische Geistesgeschichte keine Rolle mehr spielt.“ Doch anonyme Kollektive könnten sich - nicht nur im juristischen Sinn - jeder Verantwortung entziehen: „Das ist der heute vorherrschende Trick.“
Wer anonym und virtuell gegen andere Meinungen wütet und sie niedermacht, so der Philosoph, verneint die Errungenschaften von 600 Jahren europäischen Denkens seit der Frührenaissance. Wenn diese Tendenz sich verfestigt, sagt Bazon Brock, „gibt es keine Bürger mehr: Jede Argumentation läuft dann nur noch auf das Hauen und Stechen der Kollektive hinaus: auf den Bürgerkrieg“. Eine geschliffene Zuspitzung, doch die Antwort auf seine selbst gestellte Frage - „Wie kommen wir wieder ins Gespräch?“ - blieb der 87-jährige zunächst schuldig.
Gesprächsbereitschaft und Offenheit hatten bereits in den letzten Tagen vor der Eröffnung der Kurzfilmtage einige Prominente aus der Film- und Festivalszene in Solidaritätsadressen gefordert. Noch im März hatte sich Festivalchef Gass im Gespräch mit dieser Redaktion „bestürzt“ gezeigt, dass die Drohungen gegen das Festival keinen Aufschrei der Empörung ausgelöst hatten.
Nun würdigt neben anderen Felix Klein, der eloquente und vielfach medienpräsente Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, „das beherzte und mutige Agieren“ von Gass. Denn „gerade der Kunst und Kultur kommt eine für den Zusammenhalt der Gesellschaft grundlegende Funktion zu - als Bausteine offener und demokratischer Gesellschaften“, meint der 56-jährige Diplomat.
Solidarische Grüße schickte auch Jeanine Meerapfel, die scheidende Präsidentin von Berlins Akademie der Künste, nach Oberhausen: „Das Festival hat den kulturpolitischen und filmästethischen Diskurs vorangetrieben“, schreibt die 80-jährige Filmemacherin aus Argentinien und Tochter deutsch-jüdischer Emigranten. Der 58-jährige Gass verantworte die Kurzfilmtage „schon seit 27 Jahren mit Begeisterung und Mut“.
Last, not least, betonte auch der Oberbürgermeister in seiner Rede zur Eröffnung des Traditionsfestivals in der Lichtburg am Mittwochabend: „Wir stellen uns jeder Aggression entgegen.“ Die Diffamierung durch eine „anonym gesteuerte Kampagne“ nannte Daniel Schranz „eine Verrohung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen“.
Schranz führte erläuternd aus: „Wenn wir sagen, dass wir uns jedwedem Antisemitismus entgegenstellen heißt das nicht, dass wir das Leid nicht sähen, dass der durch den Angriff der Hamas auf Israel ausgelöste Krieg über die Zivilisten in Gaza gebracht hat.“ Selbstverständlich würden die Menschenrechte für alle Menschen gelten. „Genauso sicher ist aber unsere Haltung: Wir stellen uns jeder Aggression gegenüber jüdischen, israelischen und antisemitismuskritischen Personen entgegen. Es ist nicht akzeptabel, dass Menschen, die Empathie gegenüber den Opfern des Überfalls der Hamas zeigen, durch anonym gesteuerte Kampagnen diffamiert werden. Die Stadt Oberhausen steht daher klar und eindeutig hinter diesem Festival und seinem Leiter Lars Henrik Gass.“
Im Prinzip brachte das Oberhausener Stadtoberhaupt in seiner Rede wohl unbeabsichtigt die weit ausholende „Keynote Speech“ zur Mittagszeit auf den abendlichen Punkt: „Antisemitismus ist keine Meinung.“
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