Oberhausen. Beim Finale der 70. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen sorgen selbst die „kleinen“ Preise für große Rührung unter den Geehrten.
Typisch Kurzfilmtage: Es sind gerade die „kleinen“ Preise oder die undotierten „lobenden Erwähnungen“, über die sich junge - und selbst gestandene - Filmemacher ganz besonders freuen. „Ich zittere“, bekannte Zilong Wang, der Produzent von „Beyond Farewell“, einer im schicken Musikvideo-Look inszenierten Geistergeschichte. „Wir waren 20 und 21 Jahre alt, als wir diesen Film machten. Für uns ist das hier ein kostbarer Moment.“ Die vier Jugendlichen der Fasia-Jansen-Gesamtschule nannten die Geschichte der jungen KI-Regisseurin Sam „sehr rührend“ und verliehen ihr den mit 1000 Euro dotierten Preis der Jugendjury, eine von insgesamt 20 Auszeichnungen zum Abschluss der 70. Internationalen Kurzfilmtage.
Dass Thao Lam und ihr Co-Regisseur Kjell Boersma „nur“ eine lobende Erwähnung der Jugendlichen erhielten, minderte den Enthusiasmus der Kanadier kein bisschen: „Wir lassen zu, dass Menschen wie Ameisen zertreten werden.“ Die zehn Filmminuten von „Boat People“ erzählen als animierter Dokumentarfilm die Flucht von Thaos Mutter aus Vietnam.
Wenn man überhaupt einen Trend unter den preisgekrönten Werken dieser 70. Kurzfilmtage festmachen will, so ist es - neben der ausdrücklichen „Welthaltigkeit“ anstelle rein grafisch-filmischer Experimente - der bevorzugte Einsatz von Animations-Techniken. Die kann sich mittels KI bis zu beliebigen Bizarrerien steigern: zu erleben in den Beiträgen des MuVi-Wettbewerbs. Animationen können aber auch, wie in den Reportage-Formaten von Graphic Novels, heutzutage schnell und kostengünstig jene Geschichten erzählen, die keine Kamera begleitet hat.
„Zwischen Unberührtheit und Zivilisation, zwischen Paradies und Hölle“ changiere die im Filmtitel „Heile Welt“ genannte Winterlandschaft (aus Zucker) von Kerstin Gramberg, befand die Westart-Zuschauerjury. Für die tief bewegte Filmemacherin und gelernte Physiotherapeutin war die zwölfminütige Geschichte eines märchenhaft finsteren Wolfes die Arbeit etlicher Jahre: „Es gab oft Momente, als ich dachte, ich würde ihn niemals vollenden.“ Ihr Lohn in Oberhausen sind 750 Euro Preisgeld.
Insgesamt vergab das Festival in seiner 70. Ausgabe mit rund 43.000 Euro dotierte Auszeichnungen. Die größte Einzelsumme, 8000 Euro des Großen Preises der Stadt Oberhausen, erhielt im Internationalen Wettbewerb Wang Zhiyi, der in London studierte, aber in „Frühling 23“ von den Trauer-Ritualen seiner chinesischen Heimat erzählt: Ein junger Mann will seine verstorbenen Eltern mit einem Feuerwerk ehren, doch die sind beim Frühlingsfest 2023 verboten.
Fantasievoll bedruckte Streichholzschachteln sind in „Die vielen unterbrochenen Träume des Herrn Hemmady“ der erzählerische Coup des indischen Autors und Filmemachers Amit Dutta: Wenn man so will, ein „Realfilm“ mit den Stilmitteln surrealer Animations-Kunst, den die Internationale Jury für ihren mit 4000 Euro dotierten Hauptpreis erwählte.
Eine durchaus sarkastische Note birgt der Titel „Über Gastfreundschaft - Layla al Attar und das Hotel Al Rasheed“, denn das schwedische Duo Magnus Bärtås und Behzad Khosravi-Noori erzählt von jenem Luxushotel, das der irakische Diktator Saddam Hussein eigens für eine Tagung der Blockfreien Staaten 1983 in Bagdad von einem schwedischen Konzern erbauen ließ. Die Künstlerin Layla al Attar, die damals das Hotel ausstattete, lassen die Filmemacher als „Stimme aus dem Jenseits“ auferstehen: Die Jury des NRW-Kulturministeriums vergab dafür ihren mit 5000 Euro dotierten Preis. Layla al Attar starb 1993 mit 49 Jahren bei einem US-Raketenangriff auf Bagdad.
Die in Polen aufgewachsene Film-Essayistin Agnieszka Jurek erhielt 5000 Euro und den Hauptpreis im Deutschen Wettbewerb für ihre „Vermessung der Tristesse“. Ihre filmische Collage, so die Jury, biete „Sensationen, die wie Inseln im Lauf der Zeit liegen“.
„Dieser Diskurs soll die Möglichkeit bekommen, im Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens fortgesetzt zu werden“, schickte die 3sat-Jury ihrer Würdigung für „Outside“ voraus. Tatsächlich sticht Marian Maylands halbstündige Recklinghäuser Geschichte punktgenau in jene Vorwürfe eines vermeintlich „zionistischen Festivals“, wie sie Festival-Chef Lars Henrik Gass in mehreren Interviews zitiert hatte. Denn es geht um eine „Jüdin, die keine war“: Rosemarie Koczy (1939 bis 2007) schuf als Künstlerin ergreifende Bildwerke über die Gräuel der Shoah. Ihre vermeintlich jüdische Kindheit jedoch hatte sie sich erst mit über 50 Jahren zugelegt.
Quasi als „Absacker“ könnte man die knapp zehn Filmminuten „Bei Gino“ genießen: Als Preisträger des NRW-Wettbewerbes lässt Christoph Otto die Stammgäste einer Kölschen Kneipe trunken philosophieren. Für den Filmemacher, der noch schnell sein Weinglas abstellte, ehe er zur Bühne der Lichtburg eilte, gehört nämlich der Tresen „als Kitt dieser Gesellschaft“ gewürdigt. Als hätten sie‘s geahnt, hatte direkt neben dem Einlass zur Preisverleihung die stadtbekannte „Traubenschmiede“ einen Auschank aufgebaut: ein Festival-Finale mit Aperitif.
Von Kinderfilm bis zum höchstdotierten Werk: Alle Preisträger-Filme online
Alle preisgekrönten Filme, vom witzigen Kinderfilm-Badespaß „Die nackte Poolnudel“ aus Frankreich, bis zum britisch-chinesischen Empfänger des „Großen Preises der Stadt Oberhausen“, sind noch bis Dienstag, 7. Mai, um 20 Uhr online zu sehen auf kurzfilmtage.de; der Zugang ist mit Registrierung frei.