Oberhausen. Die Zahl der Menschen mit Depressionen steigt und steigt, Anlaufstellen geraten an ihre Grenzen. So fand Sven (41) endlich einen Ansprechpartner.

  • Immer mehr Menschen suchen Selbsthilfegruppen, weil sie in einer persönlichen Krise stecken.
  • Die vorhandenen Selbsthilfegruppen können nur begrenzt fachliche Unterstützung bieten.
  • Betroffene müssen oft mehrere Jahre auf einen Therapieplatz warten, was ihre Leiden verlängert.

In der Corona-Zeit begann es mit Angstschüben und dunklen Gedanken, die Sven nicht mehr loswerden wollte. Ob es daran lag, dass der 41-Jährige, der in Wirklichkeit anders heißt, sich zu Hause eingepfercht fühlte, der Stress im Job zunahm oder er den Eindruck gewann, dass die Stimmung um ihn herum immer schlechter wurde: Da kann der Familienvater nur mutmaßen.

Was er aber ganz sicher weiß: So kann es nicht mehr weitergehen. Er braucht und wünscht sich professionelle Hilfe, sprich Therapie. Deshalb rief er bei der Oberhausener Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen in der Hoffnung an, dass er dort seinem Ziel ein Stück näherkommt. Selja Badjevic arbeitet dort und Anfragen wie die des 41-Jährigen erreichen sie fast täglich. „Der Bedarf ist riesig“, sagt die 42-Jährige. „Die Menschen stecken in einer echten Krise, suchen nach einem Ausweg, den wir aber nur bedingt in der Form bieten können.“

In der öffentlichen Debatte kommt der Mangel an Therapieplätzen zu wenig zur Sprache

Da gerät die Kontaktstelle in eine echte Zwickmühle. Für Menschen, die derart unter einer Depression leiden, bedarf es einer Begleitung mit geschulten Psychologen. Die Selbsthilfegruppen können aber eine solche Betreuung nur sehr begrenzt leisten. Wie stark sich der Druck ausnimmt, dem sich die Anlaufstelle ausgesetzt sieht, lässt sich an Zahlen verdeutlichen: In den rund 1150 Kontakten (Telefongespräche, Mails, Beratung vor Ort) des vergangenen Jahres ging es zu fast 40 Prozent um Depressionen, Krisen und Ängste. Für 460 Menschen, die sich gemeldet haben, wäre zwingend eine Therapie notwendig.

Selja Badnjevic von der Selbsthilfe-Kontaktstelle und Mauno Gerritzen, Geschäftsführer des paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Eine große Zahl der Ratsuchenden meldet sich, braucht professionelle Hilfe.
Selja Badnjevic von der Selbsthilfe-Kontaktstelle und Mauno Gerritzen, Geschäftsführer des paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Eine große Zahl der Ratsuchenden meldet sich, braucht professionelle Hilfe. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Nun gibt es zwar etwa 15 Selbsthilfegruppen, in denen Menschen mit seelischen und psychischen Problemen zusammenkommen, aber sie können nur manchmal Betroffene aufnehmen, die dringend fachliche Unterstützung benötigen, ergänzt Mauno Gerritzen, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, unter dessen Dach die Kontaktstelle ihr Zuhause hat. In zahlreichen Fällen würde es eine zu starke Belastung der jeweiligen Gruppe mit sich bringen, sollten die Ratsuchenden dazustoßen. Hin und wieder komme es dazu, nach eingehender Rücksprache mit der Gruppe und dem Krankheitsbild, doch vielfach lasse sich der Wunsch nicht in die Tat umsetzen.

Um aber die Menschen, die sich in ihrer Not an den Sozialverband wenden, nicht im Regen stehen zu lassen, „gibt es zwar Lösungen, auf die wir dann auch hinweisen“, betont Badjevic. Es besteht in Oberhausen ein Netzwerk von psychosozialen Gesundheitszentren, die Beratungen, Gespräche und Treffpunkte für die betroffene Klientel im Programm haben. Gleichwohl brauchen die Menschen eigentlich einen Therapieplatz. Es sei dringend an der Zeit, deren Zahl aufzustocken, hebt Gerritzen hervor. In der öffentlichen Debatte komme der Mangel viel zu wenig zur Sprache. Zusätzliche Plätze brauche man dringend, damit es für die Hilfebedürftigen schneller vorangeht.

Depression: Drei Jahre Warten auf einen Therapieplatz

Denn die Menschen, die bei uns ankommen, „machen ohnehin schon eine Tortur durch“, sagt Sabine Stratmann, die am Friedensplatz in einer der Gesundheitszentren tätig ist. Viele wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll, alles wird ihnen zu viel, oftmals sind sie krankgeschrieben oder schaffen nur mit großer Mühe ihren Job. Durch die Warterei zieht sich ihr Leid immer mehr in die Länge.

Sabine Stratmann vom psychosozialen Zentrum, Jana Mölleken Geschäftsführerin des Netzwerks Intego, Selja Badnjevic (Kontaktstelle Selbsthilfegruppen) und Mauno Gerritzen,  Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Die Zahl der Menschen mit Ängsten, Depressionen und Störungen steigt an.
Sabine Stratmann vom psychosozialen Zentrum, Jana Mölleken Geschäftsführerin des Netzwerks Intego, Selja Badnjevic (Kontaktstelle Selbsthilfegruppen) und Mauno Gerritzen, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Die Zahl der Menschen mit Ängsten, Depressionen und Störungen steigt an. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

„Nun ist es aber nicht nur schwierig, einen solchen Platz zu bekommen, sondern ebenso belastend, die Chance darauf dauerhaft zu bewahren“, betont die 59-Jährige. „Die Menschen müssen sich nämlich immer wieder neu bei den Psychologen melden. Das wiederum verlangt vielen eine enorme Überwindung ab, die sie angesichts ihres Krankheitsbildes kaum aufbringen können“, weiß die Beraterin und ergänzt: „Wartezeiten bis zu zwei oder drei Jahren sind durchaus keine Seltenheit“, ergänzt die Beraterin.

Sabine Stratmann gehört zu den Fachkräften, die ein offenes Ohr für die Ratsuchenden hat. Deren Zahl hat in den vergangenen Jahren, insbesondere seit Corona, deutlich zugenommen. „Der Anstieg zieht sich im Grunde quer durch alle Bereiche der Gesellschaft.“ Kriege, Klimakrise oder auch eine allgemeine Angst vor der Zukunft haben nach ihren Erfahrungen ganz deutlich Einfluss auf Stimmung und Lebensgefühl, verstärken Ängste, Nöte, Sorgen oder auch vorhandene Krankheitsbilder.

Jana Mölleken (r.), Geschäftsführerin des Netzwerkes Intego, das das psychosoziale Gesundheitszentrum unterhält, in dem Sabine Stratmann tätig ist: Mit den Betroffenen nach passenden Angeboten suchen.
Jana Mölleken (r.), Geschäftsführerin des Netzwerkes Intego, das das psychosoziale Gesundheitszentrum unterhält, in dem Sabine Stratmann tätig ist: Mit den Betroffenen nach passenden Angeboten suchen. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Diese Angebote in Oberhausen können Betroffenen helfen

Gemeinsam mit den Betroffenen versucht Stratmann, Wege aus der Krise auszuloten. Das kann die Vermittlung von zumindest einem ersten Gespräch mit Psychologen sein. Unter Umständen lädt sie Menschen aber auch zur Tagesstätte des Zentrums ein. Dort können sie andere Leute treffen, zu Mittag zu essen und mit weiterem Programm dem Tag eine Struktur geben. Je nach Schwere des Falles „machen wir auf Wunsch und vorheriger Absprache auch Hausbesuche“, erläutert Stratmann. Sie und ihr Team schauen ganz genau hin, was für jeden einzelnen Menschen passt und angesagt ist. „Uns kommt es im Wesentlichen darauf an, die Menschen zu stabilisieren.“ Mitunter benötigen die Betroffenen über die psychologischen Hilfen hinaus auch andere Unterstützungen wie eine Ergotherapie. „Auch das gehört zu den Angeboten.“

Sven hat nach dem Telefongespräch mit der SHG-Stelle das psychosoziale Zentrum aufgesucht. Der Termin für ein Gespräch mit einem Psychologen soll in Kürze festgezurrt werden. Ob er die Tagesstätte mal besuchen soll, weiß er noch nicht. Immerhin hat er sich aufraffen können, um wegen eines Therapieplatzes zu telefonieren.

Hilfsangebote im Überblick

In Oberhausen bündelt der Paritätische Wohlfahrtsverband die Arbeit der Selbsthilfegruppen. Von ihnen gibt es rund 110. In rund der Hälfte der Gruppen finden von Menschen mit Behinderungen oder körperlichen Erkrankungen zusammen. In einem Viertel sind Süchte (Alkohol, Drogen) das zentrale Thema, in dem weiteren Viertel psychische oder soziale Themen vorrangig. Die Kontaktstelle hat ihren Sitz an der Wörthstraße 7, Telefon: 0208/3019620, www.selbsthilfe-oberhausen.de

Um Menschen in Krisen aufzufangen, bestehen in Oberhausen drei psychosoziale Zentren. Das Netzwerk Intego (gehört zum Paritätischen Wohlfahrtsverband) ist für die Kontakt- und Beratungsstelle am Friedensplatz 8 zuständig, 0208/8108663. Die Diakonie kümmert sich um die Anlaufstelle an der Steinbrinkstraße 158, 0208/635870-0, Mail: pgz@diakoniewerk-oberhausen.de. Das Beratungsangebot der Caritas hat an der Mülheimer Str. 202 ihren Sitz,
0208/9404-0660, Mail: kobs@caritas-oberhausen.de

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat mit weiteren Partnern eine Veranstaltungsreihe zur psychischen Gesundheit aufgelegt. Unter dem Titel „Ich fühle mich, aber wie?“ geht es um die Zunahme von Erkrankungen. Die Themen Burnout und Depression stehen am Sonntag, 10. März, 11 bis 13 Uhr, K14 an der Lothringer Straße 64, im Fokus. Am Sonntag, 26. Mai, dreht es sich am gleichen Ort und zur gleichen Zeit um die Möglichkeiten von Selbsthilfegruppen, Unterstützung zu bieten.

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