Oberhausen. Dinslakener Eltern müssen sich wegen Mordes verantworten. Auch das Jugendamt ist im Visier. Weshalb so etwas auch in Oberhausen passieren könnte.

Ein dreijähriges Mädchen stirbt an erbrochenem Brei in einem Keller in Dinslaken, in den die Eltern das Kind zuvor tagelang eingesperrt hatten. Der Vater versenkt seine tote Tochter später im Rhein-Herne-Kanal in Oberhausen. Inzwischen sitzen beide Eltern wegen gemeinschaftlichen Mordes in Untersuchungshaft. Doch auch sieben Beschäftigte des städtischen Jugendamtes in Dinslaken sind ins Visier der Staatsanwaltschaft Duisburg geraten: Ihnen wird fahrlässige Tötung vorgeworfen. Geklärt werden soll auch die Frage: Wieso hat niemand diese Tat verhindert?

„Ich möchte mit den Kollegen in Dinslaken wahrhaftig nicht tauschen“, sagt Olaf Pütz. Der Fachbereichsleiter der Erzieherischen Hilfen bei der Stadt Oberhausen weiß: Geht etwas schief, steht schnell der Verdacht im Raum, das Jugendamt hätte nicht richtig reagiert. „Wir hatten in den 25 Jahren, in denen ich in Oberhausen tätig bin – auch dank der guten Zusammenarbeit mit dem Pflegekinderdienst der Caritas – glücklicherweise noch keinen einzigen Todesfall“, erzählt Pütz. Die Erleichterung in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Denn die Erkenntnis bleibt: „Es hätte auch in Oberhausen passieren können.“ Warum nur?

Immer mehr Hinweise aus Kindergärten, Schulen und Jugendeinrichtungen

„Weil man den Menschen immer nur vor den Kopf gucken kann!“, betont Tina Bauer vom Jugendhilfe-Regionalteam Oberhausen-Mitte/Styrum. Generell seien die Menschen zwar hellhöriger geworden. „Auch, weil es verpflichtende Schulungen für alle gibt, die mit Kindern zu tun haben.“ Gerade die Hinweise aus Kindertagesstätten, Schulen und Jugendfreizeit-Einrichtungen hätten sich erhöht. „Wir konnten in diesen Bereichen ein gutes Netzwerk aufbauen.“ Doch auch in Dinslaken seien die betroffenen Eltern ja bereits vom Jugendamt betreut worden. Aus der Familie aber hatte man das Mädchen nicht genommen.

Fakt ist: Ein Kind aus der Familie herauszuholen, bleibt stets das letzte Mittel. „Zur Inobhutnahme dürfen wir nur greifen, wenn wir Kenntnis von einer extremen Familiensituation haben, wenn wir etwa von häuslicher Gewalt wissen, von Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch“, erläutert Olaf Pütz. Die plötzliche Trennung von den Eltern bedeute für die Kinder schließlich meist eine zusätzliche Traumatisierung. „Da ist die Angst groß. Die Kinder wissen ja nicht, wo komme ich hin, was passiert jetzt mit mir?“, erzählt Tina Bauer. Raus aus der Familie bedeutet außerdem oft zusätzlich: „Raus aus der Kindertagesstätte oder Schule, manchmal müssen die Kinder sogar in eine fremde Stadt.“ Je nachdem, wo für sie in dieser höchsten Not eine Pflegefamilie oder ein Betreuungsplatz gefunden wird.

Deshalb stünden fast immer zuerst ambulante Hilfen im Vordergrund. „Zeigen sich die Eltern dabei einsichtig, kann man nur hoffen, dass sie uns nichts vorspielen und nicht doch etwas passiert, sobald wir ihnen den Rücken kehren“, sagt Tina Bauer. Im Laufe der Jahre entwickele man dafür ein ganz gutes Bauchgefühl. „Ein Restrisiko aber bleibt immer, das ist unser schlimmster Albtraum.“

Zwölf Stellen sind allein in Oberhausen nicht besetzt

Dazu kommt die fast in jedem Jugendamt vorhandene Personalnot. „Bei uns sind aktuell zwölf Sozialarbeiter-Stellen nicht besetzt, wir freuen uns da wirklich über jede Bewerbung“, betont Pütz. Fünf Regionalteams mit jeweils rund 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seien in Oberhausen im Einsatz. Auf jede Vollzeitstelle sollten normalerweise höchstens 35 Fälle entfallen. „Tatsächlich sind es auch bei uns in Mitte/Styrum bereits mehr als 40“, räumt Tina Bauer ein. Dabei stecke hinter jedem Fall stets ein eigenes, schwieriges Schicksal. Pütz ergänzt: „Wir reparieren schließlich keine Autos, sondern kümmern uns um die Schwächsten dieser Gesellschaft.“

Jonathan Will (Pflegekinderdienst, Caritas), Tina Bauer und Olaf Pütz (Erzieherische Hilfen, Stadt OB) arbeiten Hand in Hand, um für Oberhausener Kinder in Not eine möglichst gute Lösung zu finden.
Jonathan Will (Pflegekinderdienst, Caritas), Tina Bauer und Olaf Pütz (Erzieherische Hilfen, Stadt OB) arbeiten Hand in Hand, um für Oberhausener Kinder in Not eine möglichst gute Lösung zu finden. © FUNKE Foto Services | Ant Palmer / FUNKE Foto Services

Hilfe für Kinder in Not koste Geld. Da müssten die Städte schon bereit sein mitzuziehen. „Zum Glück ist das in Oberhausen der Fall“, sagt Pütz. Und zum Glück funktioniere auch die Zusammenarbeit mit dem Pflegekinderdienst der Caritas ausgesprochen gut. „Alleine seit dem 1. April 2023 haben wir in Oberhausen 151 Kinder in Obhut genommen.“ 90 Kinder hätten in stationären Einrichtungen untergebracht werden können und 61 in Pflegefamilien „oder bei einer anderen geeigneten Person“.

284 Pflegekinder werden in 225 Oberhausener Pflegefamilien betreut

Jonathan Will freut das Lob, doch auch sein Dienst könnte mehr Unterstützung vertragen. „Wir suchen dringend weitere Pflegeeltern für alle Betreuungsformen.“ Sieben Pflegekinder, bis zu neun Jahre alt, sind aktuell bei einer Bereitschaftspflege-Familie untergekommen, zehn (bis 15 Jahre alt) haben einen Kurzzeitpflege-Platz, zwei seien in Entlastungsfamilien untergekommen. „135 Kinder und Jugendliche bis zu 21 Jahre werden von Verwandten oder anderen Netzwerken betreut.“ 118 bis zum 21. Lebensjahr befänden sich darüber hinaus in einer Vollzeitpflege. Dazu kommen zwölf weitere junge Menschen (neun bis 19 Jahre) „als Pflegekinder mit Behinderungen“. „Damit werden insgesamt 284 Pflegekinder in 225 Pflegefamilien betreut.“

Besonders in der Bereitschafts- und Kurzzeitpflege könnten es laut Jonathan Will gerne bis zu zehn Pflegeväter und Pflegemütter mehr sein. „Der Bedarf bei der Vollzeitpflege ist ebenfalls groß, auch dafür können sich Interessierte bei uns melden.“ Vor allem Familien, die bereit sind, ältere Kinder und Jugendliche aufzunehmen, würden dringend gesucht (Kontakt: Tel. 0208 9404-451, Handy 0163 8808611 oder per Mail an: jonathan.will@caritas-oberhausen.de).

Olaf Pütz blickt auf sein Handy. „Oh, ein Hilferuf eines Mitarbeiters, der gerade für einen Neunjährigen keinen Platz finden kann.“ Die Eltern hätten den Jungen zur Jugendhilfe gebracht und gesagt: „Wir können ihn nicht mehr mit nach Hause nehmen, sonst passiert was.“ Auch das gibt es. Was sich im ersten Moment vielleicht furchtbar anhört, bedeutet letztlich: „Die Eltern vertrauen uns und sie kommen zu uns, wenn sie nicht mehr weiterwissen – so soll es sein“, sagt Pütz und verabschiedet sich. Er hat jetzt Wichtigeres zu tun.

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