Mülheim. Chronische Konflikte sind ein Risiko für die Psyche. In Mülheim gibt es endlich ein Hilfsangebot für leidende Kinder: „Sie sind oft so allein“.
Die Trennung oder Scheidung von Mama und Papa bedeutet für Kinder zumeist einen tiefen Einschnitt ins Leben. Mit dem neuen Gruppenangebot „Die Schwalben“ möchte die Mülheimer Caritas, Acht- bis Zehnjährigen in der Krise zur Seite stehen, sie unterstützen und entlasten. Die Grundschüler sollen ihre Gefühle besser verstehen und einordnen können und auf Sicht einen neuen Platz im geänderten Familiengefüge finden. Im Interview erklären Psychologin Luisa Reich (29) und Sozialwissenschaftler Nils Bohländer (43), was genau sie vorhaben, wie sie die Kleinen stärken wollen.
Seit langem schon unterstützen Sie Familien in Trennungssituationen. Die Caritas bietet Einzelberatungen für Eltern an und moderierte Gespräche für Väter und Mütter zusammen, hat außerdem den Elternkurs ,Kinder im Blick‘ im Angebot. Warum haben Sie sich nun entschieden, einen Kurs ausschließlich für Kinder einzurichten?
Reich: Trennung und Scheidung sind ein riesengroßes Thema bei uns in der Psychologischen Beratungsstelle. Im Jahr 2023 haben wir 305 Familien unterstützt. Und rund 65 Prozent kamen zu uns, weil sie in dieser belastenden Situation steckten. Eine Prognos-Studie hat kürzlich gezeigt, dass bei der Hälfte aller Scheidungen Minderjährige betroffen sind. Etwa jede zweite Familie, die zerbricht, holt sich Hilfe bei Beratern oder Mediatoren. Und die meisten fahren gut damit.
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Bohländer: Für die Erwachsenen also gibt es diverse Angebote, für Kinder aber fehlt in Mülheim seit Jahren etwas Vergleichbares. Dabei gibt es einen großen Bedarf. Wir wollen diese Lücke nun schließen.
Wie erleben Sie die Kleinen in der schwierigen Lebensphase? Was beschwert die Jungen und Mädchen besonders?
Bohländer: Viele von ihnen stehen mit dem traurigen Thema einsam da und alleine. Sie können sich Mama und Papa oft nicht zu 100 Prozent anvertrauen, weil sie im Loyalitätskonflikt stecken. Sie wissen nicht, wie sie über den jeweils anderen sprechen dürfen, sind immer extrem auf der Hut. Kinder möchten von beiden Teilen geliebt werden. Chronisch anhaltende Elternkonflikte belasten sie sehr. Sie sind ein enormer Risikofaktor für die psychische Gesundheit. Bei uns sollen die Kinder einen Ort bekommen, an dem sie frei darüber sprechen können, wie es ihnen geht und an dem sie erleben, dass es auch andere gibt, die ähnliche Probleme haben wie sie.
Reich: Der neue Kurs wird für uns auch deshalb spannend werden, weil wir die Kinderperspektive noch einmal ganz anders kennenlernen können. Wir wollen ja immer das ganze System Familie verstehen.
Wie wird der Kurs ablaufen? Welche Ideen haben Sie, damit sich die Kinder auch wirklich öffnen? Wie wollen Sie Vertrauen schaffen?
Bohländer: Wir haben uns bewusst entschieden, mit ihnen in eine Turnhalle zu gehen. Da können sie sich viel bewegen. In einer belastenden Situation tut es gut, sich abzureagieren und auch mal miteinander zu lachen. Wir werden viel zusammen spielen, so soll sich die Gruppe finden. Wir möchten, dass sich die Schüler mit ihrer Familienbiographie auseinandersetzen und mit ihrer aktuellen Lage. Um diese besser zu verstehen, arbeiten wir zum Beispiel mit Tierfiguren. Damit kann man kindgerecht darstellen, wer welche Position in der Familie hat. Und so findet man vielleicht Antworten auf Fragen wie diese: Wo stehe ich eigentlich? Wer ist besonders nahe und wer nicht so?
Reich: Es geht ganz wesentlich um den Umgang mit eigenen Gefühlen. Wir lesen Geschichten vor und hören Musik. Pantomime, Rollenspiele, meditatives Malen sind weitere Elemente des Kurses. Die Kinder sollen herausfinden, welche Botschaften sie an Mama und Papa haben. Und wie sie diese vermitteln können.
Wenn Sie an frühere Beratungsgespräche denken, was waren da besonders belastende Momente? Ist Ihnen ein Fall vielleicht besonders in Erinnerung geblieben?
Reich: Besonders heikel wird es im Bereich der sogenannten Hochstrittigkeit. Wenn Eltern in ihrem Konflikt so verfestigt sind, dass der eine schon automatisch Nein sagt, wenn der andere Ja sagt. Da kommen auch wir manchmal an unsere Grenzen. Ich finde es traurig, wenn Eltern es einfach nicht hinbekommen, obwohl sie genau wissen, dass es ihren Kindern damit nicht gut geht.
Bohländer: Ich erinnere mich an einen Jungen, der Rotz und Wasser geheult hat, weil der Vater sich einfach nicht bei ihm gemeldet hat. Es war ein unzuverlässiger Mann mit Suchtgeschichte, der den Kontakt oft für lange Zeit abgebrochen hat. Von außen betrachtet, fragt man in einem solchen Fall vielleicht: Warum hältst du daran fest? Warum tust du dir das an? Doch dieser Junge wollte unbedingt mehr Kontakt haben. Er war in großer Not und tat mir sehr leid. Was vielen nicht bewusst ist: Die Loyalität zu den Eltern ist häufig deutlich größer als erwartet.
Glauben Sie, dass die acht Termine mit Ihnen, den Jungen und Mädchen wirklich langfristig helfen können? Reicht diese Zeit, um sich zu wappnen?
Bohländer: Der Kurs hat einen Anfang und, ja, dann hat er auch wieder ein Ende. Wir sind aber sicher, dass die Kinder Sachen daraus mitnehmen werden, Strategien wie sie sich verhalten können, Ideen und Werkzeuge.
Reich: Ich hoffe sehr, dass sie sich bei uns verstanden fühlen und dass sie gestärkt werden. Wir bieten ihnen eine Begleitung an auf ihrem Weg der Selbst-Auseinandersetzung. Auch wenn diese Begleitung nicht so lang ist: Sie trägt sicher dazu bei, dass die Kleinen ihren Platz finden. Wenn es gut läuft, bieten wir den Kurs ab sofort regelmäßig an.
Der Caritas-Kurs für Scheidungskinder „Die Schwalben“ ist gedacht für Acht- bis Zehnjährige. Die Gruppe findet statt vom 15. Mai bis 3. Juli, mittwochs von 16 bis 17.30 Uhr in der Turnhalle, Eisenstraße 18. Info und Anmeldung: 0208-30008 94 bzw. erziehungsberatung@caritas-muelheim.de. Für die Teilnahme bedarf es der Einverständniserklärung beider Elternteile.
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