Mülheim. Sie floh im Alter von 100 Jahren vor dem Krieg aus Charkiw und lebte die vergangenen zwei Jahre in Mülheim. Jetzt will die alte Dame heimkehren.
Es sei nur zur Überbrückung, dachten sie, für eine überschaubare Zeit, bis die Kriegsgefahr gebannt sei. Doch inzwischen lebt Tamara Butenko seit zwei Jahren in Mülheim, ebenso lange, wie in der Ukraine Panzer rollen und Bomben fallen. Dabei möchte die Seniorin nichts sehnlicher, als zurück in ihre geliebte Heimat. Jetzt, kurz nach ihrem 103. Geburtstag, könnte ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen - doch das Drama in ihrem Land, die Gefahr nahe ihrem Zuhause sind nach wie vor allgegenwärtig.
Es ist ihr 103. Geburtstag, der Tisch ist reich gedeckt, die Familie, sofern sie anreisen konnte, ist um sie herum versammelt. „Heute haben wir extra Kaviar für sie besorgt, weil sie den früher so gerne gegessen hat. Dabei wollte Oma eigentlich gar keine große Feier“, sagt Olga Sirik (42), die in Mülheim lebende Enkelin der hochbetagten Frau aus der Ukraine. Im Gastraum des Restaurants Walkmühle, das die Enkelin gemeinsam mit ihrem Mann führt, ist ein Raum festlich eingedeckt, vor dem Fenster schillert eine Happy-Birthday-Girlande. Dass jemand seinen 103. Geburtstag erreicht, wäre an sich schon eine Nachricht. Diese Seniorin aber trotzt nicht nur dem Alter, in gewisser Weise trotzt sie auch Putin.
Hochbetagte Ukrainerin trotzt dem Alter und in gewisser Weise auch Putin
Denn Tamara Butenko lässt sich durch nichts davon abbringen, dorthin zurückzukehren, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. Vor 103 Jahren im russischen Kursk geboren, sagt die alte Dame heute: „Die besten Zeiten meines Lebens habe ich in der Ukraine verbracht.“ Dort gründete sie eine Familie, war als Lehrerin tätig, leitete ein Berufskolleg und vor allem: baute in Charkiw ein Museum auf, um den folgenden Generationen über den Zweiten Weltkrieg zu berichten.
Denn als junge Frau hat sie die Gräuel dieses Krieges hautnah miterleben müssen, diente als Krankenschwester nahe der Front, versorgte unermüdlich verwundete Soldaten. Als hochdekorierte Veteranin ging sie daraus hervor und vor allem als Zeitzeugin, die nach Kriegsende aufklären und wachrütteln wollte. Schulklasse um Schulklasse schleuste sie durch ihr Museum, um zu zeigen, was Krieg anrichtet und worum es im Kern gehe: Um Völkerverständigung, darum zu zeigen, dass Menschen Brüder und Schwestern sind.
Enkelin begleitet 103-jährige Ukrainerin zurück nach Charkiw
Vor zwei Jahren aber hat sie der Krieg gezwungen, woanders zu leben. Kurz vor ihrem 101. Geburtstag kam Tamara Butenko aus der schwer umkämpften Stadt Charkiw im Osten der Ukraine nach Mülheim, hatte eine beschwerliche Flucht mit ihrer Tochter und einer Enkelin hinter sich. Auch wenn sie heute das gute Leben in Deutschland lobt, wo sie sterben wird, bestimme sie immer noch selbst, scheint ihr eindringlicher Blick zu sagen.
Stolz wirkt sie, sitzt kerzengerade gerade auf ihrem Stuhl am Kopf des Tisches, um sie herum ihre Enkel und Urenkel. „Meine Oma ist eine starke Person“, sagt Enkelin Olga, die übersetzt. Die Seniorin beobachtet das Geschehen, ihre blauen Augen blitzen. Nichts scheint diese hochbetagte Frau brechen zu können, Angst scheint sie nicht zu haben - auch nicht vor Putins Bomben. Kurz nach ihrem 103. Geburtstag will sie zurückreisen in ihre Heimat. Die lange Reise wird die alte Frau in Begleitung ihrer Enkelin, der jüngeren Schwester von Olga Sirik, antreten.
Mit Bus und Bahn werden die beiden Frauen unterwegs sein, vermutlich über Tage. Zum Fliegen sei sie zu alt, erzählen die Angehörigen, daher bleibe lediglich die Reise über den Landweg. Nur eine Frau könne die Großmutter zurück in ihr Heimatland bringen. Für den Bruder, der längst in Deutschland lebt und zum 103. Geburtstag aus Baden-Württemberg angereist ist, wäre die Gefahr zu groß, vom Militär eingezogen zu werden, sollte er die alte Dame in die Ukraine begleiten.
Mülheimer Familie hat Sorge um die Großmutter, die zurück in die Ukraine will
Ob ihre Wohnung noch intakt ist, das wissen sie nicht so genau. Das Mehrfamilienhaus, in dem Tamara Butenko vor ihrer Flucht wohnte, soll bislang wohl verschont geblieben sein von Raketenangriffen. Drumherum aber sei vieles zerstört. „Es war zwischenzeitlich in Charkiw ruhiger geworden, die Angriffe waren etwas zurückgegangen“, berichtet Olga Sirik. Aktuell aber flamme die Situation wieder auf - was die Familie erneut in Zweifel stürzte darüber, ob man die Oma reisen lassen sollte.
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„Jeder hat Angst davor, dass jemand aus der eigenen Familie ums Leben kommt“, sagt die Mülheimer Wirtin. Doch mit Blick auf ihre Großmutter bekräftigt sie: „Wir sind bereit, ihr ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Damit sie im hohen Alter zufrieden ist, braucht sie das Gefühl, zu Hause zu sein.“ Denn Enkelin Olga weiß: „Ihre größte Angst ist es, in Deutschland zu sterben und nicht in ihrer Heimat.“ Die besondere Geburtstagsfeier wird also zugleich unweigerlich ein Abschied sein.
Mülheimer Paar mit ukrainischen Wurzeln unterstützt Verein, der im Kriegsgebiet hilft
Die Hilfe des Mülheimer Paares Sirik, das seine Wurzeln in der Ukraine hat, endet nicht mit der Rückreise der Großmutter. Sergio und Olga Sirik engagieren sich in dem in Essen beheimateten Verein Opora. Der Verein leistet vor Ort Unterstützung, bringt Hilfsgüter sowie Medikamente in die Ukraine und stellt Fahrzeuge zur Verfügung. Mit Hilfe des Vereins konnte etwa auch ein leistungsstarker Stromgenerator für ein Kinderheim in Charkiw angeschafft werden. Weitere Informationen: opora-ua.de
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