Mülheim. Das „Rausch 2“-Festival im Theater an der Ruhr in Mülheim ist eröffnet. Zum Start gab es zwei ganz unterschiedliche Stücke. Wovon handeln sie?

Zwei Uraufführungen an einem Abend, zwei ganz unterschiedliche Produktionen – und doch wieder nicht. Denn wer sich beide Aufführungen im Theater an der Ruhr hintereinander anschaut, entdeckt auch Parallelen zwischen „Shağaf/Singing Hearts“ und „State of Euphoria“. Das Festival „Rausch 2“ wurde am Freitag eröffnet, es erkundet bis zum 19. November erneut den „vielschichtigen Zustand jenseits unseres Normalbewusstseins“ – also Verzücktheit, Entrücktheit und Rausch, aber auch Raserei.

In eine fremde Welt nehmen Regisseurin Amal Omran und Supervisor Ossama Mohammed die Zuschauer in „Shağaf/Singing Hearts“ mit. Sie führen eine Hadra, eine rituelle Handlung aus dem sufistischen Gottesdienst vor. Es beginnt verhalten: Vier Personen sitzen nebeneinander auf vier Stühlen – atmen, flüstern, summen. Poetische Begriffe in Deutsch (Rupert Seidl) und in Arabisch (Amal Omran) werden laut, und man hört schnell heraus: Es geht um die große Liebe („Shağaf“) zu einem Gott, mit dem man im rituellen Tun – in Musik, Gesang, Tanz – eins werden kann und möchte.

Großartige syrische Sängerin zu Gast in Mülheim

Eine großartige Sängerin mit glasklarer und äußerst wandelbarer Stimme steht dabei im Mittelpunkt der rund einstündigen Performance: Noma Omrans beeindruckender Gesang wird von Minute zu Minute immer eindringlicher. Zu der Musik schreiten zwei Frauen durch den Raum, aus Bewegungen und Berührungen wird langsam Tanz. Die Performerinnen vergessen sich in Gesang, Rhythmus und Bewegung. Der Musiker und Tänzer Muhammed Tamin gibt mit seinem Spiel auf der Trommel den Takt vor.

Die Gläubige (Opernsängerin Noma Omran) gerät langsam außer sich und in Ekstase. Das hat durchaus auch etwas Erotisches, strebt einem Höhepunkt zu. Auch wenn man die Texte der Gesänge nicht versteht, man spürt, was vorgeht in der Frau – am Ende der Hadra stehen Ruhe und Erschöpfung. Aber auch „die Sonne“ – Licht und Zuversicht. Das Publikum ist sehr angetan von dieser interessanten, spirituellen Reise.

Die Sängerin und Performerin Noma Omran und der Musiker und Tänzer Muhammed Tamin führen im Theater an der Ruhr in Mülheim eine Hadra auf.
Die Sängerin und Performerin Noma Omran und der Musiker und Tänzer Muhammed Tamin führen im Theater an der Ruhr in Mülheim eine Hadra auf. © Unbekannt | Franziska Götzen

Zuschauer sind im Mülheimer Theater Teil der Inszenierung

An einen Ort ganz anderer Art führt das zweite Stück an diesem Premierenabend: „State of Euphoria“. Das Publikum ist eingeladen, in die Welt der Clubs, der Techno-Tempel einzutauchen. Es ist ein Ort, an dem junge Menschen der Realität entfliehen wollen und im Rausch der Beats und des Tanzens Glücksempfinden suchen. Das Ziel ist – wie in der Hadra – auch hier: Man will außer sich geraten.

Regisseur Gordon Kämmerer hat eine aufwendige Inszenierung, einen schillernden Kosmos geschaffen, in den die Zuschauerinnen und Zuschauer ganz eindringen, weil sie teilweise selbst zu Darstellenden werden. Los geht es vor dem Theater, ein Lkw rollt heran, der ein verrücktes Partyvolk ausspuckt. Dann dürfen auch die Besucher – vorbei an strengen Türstehern – hinein ins Foyer, das zum coolen Club umgestaltet worden ist (Bühne: Louisa Robin, Kostüme: Gordon Kämmerer, Katharina Lautsch).

Das Partyvolk im Club: Szene aus dem Stück „State of Euphoria“, das in Theater an der Ruhr in Mülheim gezeigt wird.
Das Partyvolk im Club: Szene aus dem Stück „State of Euphoria“, das in Theater an der Ruhr in Mülheim gezeigt wird. © Unbekannt | Franziska Götzen

DJ Hundefriedhof sorgt in Mülheim für die Techno-Beats

Die Beats des Techno empfangen die Schauspieler und das Publikum und unterlegen die theatrale Party, die bis tief in die Nacht dauern soll, ununterbrochen. Wer das nicht mag, ist hier falsch, wer es liebt, ist richtig. Wild und selbstvergessen tanzen die Partygäste, DJ Hundefriedhof sorgt für die treibenden Rhythmen. Comicvideos flimmern über die Wände. In einer Garderobe kann man sich umstylen lassen, wer möchte, kann am Glücksrad drehen, sich in der Schwarzlichtbox berauschen lassen, Shots trinken oder auch eine Entspannungsmassage genießen. Auf der Tanzfläche heißt das Motto: „Arme hoch und ausrasten!“.

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Schon euphorisiert geht es dann in den Theatersaal, einen zweiten Club. Dort sind die Zuschauer nur Zuschauer. Auf der Bühne wird indes weitergetanzt, aber auch Theater geboten – nach Motiven aus der Erzählung „Rave“ von Rainald Goetz. Der Autor hat in seinem Werk dezidiert einen Clubbesuch beschrieben. Passagen daraus werden von den Darstellerinnen und Darstellern vorgetragen, die sich dabei die Seele aus dem Leib tanzen – Respekt für so viel Kondition (Choreographie: Charlotte Triebus)! So entstehen vor dem inneren Auge der Zuschauer scharfe Schnappschüsse vom Clubleben.

Kunstparcours

Ein Kunstparcours ist im Theater an der Ruhr auch zu besichtigen.In allen drei Stockwerken sind Installationen und Video-Installationen aufgebaut.Manche sind interaktiv, andere funktionieren mit VR-Brille. Im Erdgeschoss befindet sich der „Gebetomat“ von Oliver Sturm.Er sieht aus wie eine Fotokabine. Man kann sich reinsetzen und sich auf Knopfdruck Gebete aus allen großen Weltreligionen anhören.

Stück über das Clubleben zieht mehr junge Leute ins Mülheimer Theater

Manchmal wird es auch (selbst)ironisch. Als plötzlich die Musik aussetzt, rufen die Tanzenden entsetzt: „Der Bass ist weg!“ An anderer Stelle schlägt einer vor: „Wir sollten jetzt langsam die komischen Pilze probieren.“ Plötzlich schert einer aus, ruft „Geil!“ – an die hundert Mal. Die Faszination, aber auch die tiefen Abgründe des Clublebens werden durch den scharfsinnigen Text und das entfesselte Spiel aufgezeigt. Am Ende steht wieder der „Fun“, die Zuschauer sind aufgefordert, erneut mitzutanzen – in einem Stück, das vor allem zu Beginn etwas gestraffter sein könnte, das aber viele Besucher erreicht.

Mehr junge Zuschauer gewinnen, das ist ein Ziel, das sich das Theater an der Ruhr gesetzt hat. Schon bei „Rausch 1“ im Sommer ist das laut Geschäftsführer Sven Schlötcke gelungen. Bei „State of Euphoria“ scheint es ebenfalls zu klappen. Das Publikum bestand bei der Premiere zumeist aus jungen Leuten. Die nicht ganz einfache Zukunftsaufgabe wird es sein, ein (älteres) Stammpublikum und junge Theaterfans gleichzeitig zu bedienen.

Weitere Termine: Shagaf: 4. und 5. 11., 10. und 11.11., 17. und 18.11. jeweils um 19.30 Uhr; State of Euphoria; 4..11., 10. und 11.11., 17. und 18.11. jeweils um 21 Uhr, samstags mit anschließendem Clubbesuch in Essen oder Duisburg