Mülheim. Bereits 2019 schlug ein Polizist einen Mülheimer, seine Chefs wollen das nicht gewusst haben. Eine Kollegin packte aus, offenbart immensen Druck.
„Glauben Sie, ich setze meine Karriere für jemanden aufs Spiel, der jemanden Gefesseltes schlägt?“, fragt der 55-jährige Angeklagte am Montagvormittag in den Saal des Duisburger Landgerichtes hinein. Der mittlerweile suspendierte Dienstgruppenleiter bei der Mülheimer Polizei muss sich gemeinsam mit seinem 49-jährigen Kollegen, ebenfalls suspendierter Dienstgruppenleiter, in zweiter Instanz vor der zwölften Strafkammer wegen der Strafvereitelung verantworten – die ehemaligen Führungskräfte sollen einen mittlerweile 32-jährigen Kollegen gedeckt haben, der im Januar 2019 einem Tatverdächtigen mehrfach mit der Faust ohne Rechtfertigung ins Gesicht geschlagen hat.
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Die beiden Männer aus Essen und Bochum waren bereits Ende Februar vor dem Amtsgericht Mülheim wegen Strafvereitelung zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden, sind seit März nicht mehr im Dienst. Nun wird der Fall unter Vorsitz von Richter Ulrich Metzler neu aufgerollt. Der Ursprung des vielschichtigen Falls reicht weit zurück. Hinsichtlich der Ausgangssituation decken sich die bisherige Aktenlage und die Zeugenaussagen: Am 11. Januar 2019 ist es am Hans-Böckler-Platz am späten Abend zu einem Polizeieinsatz gekommen. Einsatzstichwort häusliche Gewalt, Tatopfer stark am Kopf verletzt.
Mülheimer Polizisten rücken trotz Schichtwechsels noch aus
Auf der Mülheimer Wache findet zu dem Zeitpunkt Schichtwechsel statt, auf die Spätschicht der Dienstgruppe A folgt die Nachtschicht der Dienstgruppe B. Es rücken mehrere Einsatzfahrzeuge zum Tatort aus, darunter vier junge Beamte beider Dienstgruppen, später auch der Gruppendienstleiter der Nachtschicht. Ab hier unterscheiden sich nun die Versionen dessen, was sich ereignet haben soll. Einer Version zufolge, die bereits von einem rechtskräftigen Urteilsspruch gefestigt wird, hat einer der zum Einsatz ausgerückten Polizisten, ein 32 Jahre alter Essener, den 54-jährigen Vater der verletzten Frau zunächst gefesselt und dann grundlos geschlagen. Dafür war der Essener bereits im Sommer 2021 vom Amtsgericht wegen Körperverletzung im Amt verurteilt worden. Der ehemalige Beamte gesteht damals vor Gericht, zeigt sich reumütig. Urteilsspruch: Neun Monate Haft mit Bewährung.
Bis das allerdings herauskommt, spielt sich eine Menge mehr ab – und hier gehen nun die Erinnerungen auseinander. Fraglich ist: Haben die beiden Vorgesetzten von dem Fehlverhalten ihres Kollegen gewusst und diesen gedeckt? „Diese Situation belastet meine Familie und mich sehr“, sagt der 55-jährige Angeklagte aus. Er hatte in der Nacht des Einsatzes die Führung an seinen Kollegen übergeben, war daraufhin mehrere Tage nicht im Dienst. „Eine stressige Nacht“, sei der 11. auf den 12. Januar gewesen – viel los, erinnert sich der 49-jährige Dienstgruppenleiter zurück.
Mülheimer Polizist streitet sich auf der Wache mit Kollegin
So habe es auf der Wache nach dem Einsatz in einem der SWB-Türme am Hans-Böckler-Platz unter anderem einen Konflikt zwischen dem bereits verurteilten Essener (32) und der Kollegin gegeben, die ihn bei dem Prozess zwei Jahre später entscheidend belasten sollte. Sie war es, die in der Nacht das Gespräch zu ihrem Dienstgruppenleiter suchte. „Es ging darum, dass sie aufgebracht war, weil der Kollege sie öffentlich bloßgestellt hat“, erklärt der Bochumer seine Sicht. Der 32-Jährige soll die Kollegin vor versammelter Mannschaft angegangen sein, weil sie die Handschellen des 54-jährigen Tatverdächtigen habe lösen wollen.
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Ob die Schläge gegen den Mann durch den Kollegen in der Wohnung bei diesem Gespräch zur Sprache gekommen seien, will Richter Metzler wissen. „Nein“, lautet die entschiedene Antwort des Angeklagten. Dem Protokoll vom Prozess aus 2021 zufolge will die junge Kollegin das aber zu diesem Zeitpunkt bereits thematisiert haben. Kopfschütteln bei den Angeklagten. Sie sagen übereinstimmend aus, dass sie ein Fehlverhalten gemeldet hätten, wenn sie davon gewusst hätten. Es habe lediglich einige Tage später, offenbar am 16. Januar, einige Gespräche gegeben. So habe der 49-Jährige seinem 55-jährigen Kollegen vom Konflikt zwischen dem 32-Jährigen und der jüngeren Kollegin der anderen Dienstgruppe berichtet – „von Schlägen war da nie die Rede“.
Von Mülheim versetzt und nun auch befördert: „Gut weggekommen“
Trotz Ladung erscheint die junge Kollegin, die die Schläge beobachtet hat, an diesem Montag nicht vor Gericht. Wohl aber eine andere Beteiligte, mittlerweile 29 Jahre alt. Sie war in der Tatnacht ebenfalls vor Ort, fuhr den Einsatz mit dem 32-Jährigen. Auch sie hatte 2021 im Prozess ausgesagt – zunächst zu seinen Gunsten. Er habe sich angesichts der angespannten Situation verhältnismäßig verhalten, entlastet sie ihn damals. Als dann die damals 23-jährige Kollegin auspackte und berichtete, dass der Essener den Mülheimer zunächst fesselte und dann mehrfach schlug, gestand die 29-Jährige, vor Gericht und auch bei den polizeiinternen Ermittlungen gelogen zu haben.
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„Ich habe meine Strafe bekommen“, sagt sie nun, mehr als zwei Jahre später und sichtlich aufgeregt im Zeugenstand. Die Stimme der Essenerin ist zittrig, überschlägt sich mehrfach, die Hände sind fahrig. Sieben Monate auf Bewährung gab es damals wegen Strafvereitelung, das Disziplinarverfahren blieb bis auf einen Aktenvermerk folgenlos. Mehr noch, wie Andreas Renschler, Rechtsbeistand eines der Angeklagten, etwas spitzzüngig bemerkt: „Sie sind sogar befördert worden und mittlerweile Polizeioberkommissarin. Also sind sie gut weggekommen.“
Mülheimer Polizist soll gesagt haben: „Gefesselte Leute schlägt man nicht.“
Dessen scheint sich die Zeugin mehr als bewusst. „Ich würde meinen Job nie wieder aufs Spiel setzten, das ist rückblickend so bescheuert, wie ich mich verhalten habe.“ Anders als die Angeklagten, schildert die 29-Jährige, dass die Schläge in der Mülheimer Wohnung sehr wohl im Kollegium zur Sprache gekommen seien. So sei sie selbst wenige Tage nach dem Ereignis zu einem Vierer-Gespräch mit den beiden Dienstgruppenleitern und dem 32-Jährigen gerufen worden. Der Kollege habe „sehr frei erzählt, was er gemacht hat“, schildert sie. „Er hat einfach die Wahrheit gesagt.“ Während die beiden Angeklagten zwischen ihren Verteidigern hinweg immer wieder Blicke austauschen, fährt die Polizeioberkommissarin fort. „Ein Satz ist mir besonders prägnant in Erinnerung geblieben.“ So habe der 55-jährige Dienstgruppenleiter gesagt: „Gefesselte Leute schlägt man nicht.“
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Auf die Frage des Richters hin, wieso sie damals vor Gericht gelogen und sich sogar mit dem 32-Jährigen mehrfach abgesprochen habe, um ihn zu decken, antwortet die 29-Jährige: „Ich habe mich von der Menge mitreißen lassen und hatte einfach Angst.“ Wie entlarvend diese Aussage hinsichtlich der Personalstimmung unter den Dienstgruppen ist, verdeutlichen ihre weiteren Ausführungen. Demzufolge habe die jüngere Kollegin als „Kollegenschwein“ gegolten und offene Ablehnung erfahren müssen. „Hätte ich sofort die Wahrheit gesagt, wäre mir das auch passiert. Ich wollte aber weiter gerne zum Dienst gehen.“
Beim nächsten Sitzungstermin, für den 8. November angesetzt, stehen die Zeugenaussagen der nicht erschienen Streifenkollegin und des bereits wegen Körperverletzung im Amt verurteilten 32-Jährigen aus. Dieser war zwar am Montag erschienen, hatte aber von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wollen. Das stehe ihm nun aber nicht mehr zu, wie Richter Ulrich Metzler erklärt. „Sie sind nun rechtskräftig verurteilt und müssen über alles, was vor dem Urteilsspruch passiert ist, Angaben machen“, ordnet er ein. Er wolle den Zeugen nicht überrollen, räume ihm deshalb Zeit und Absprache mit seinem Rechtsbeistand ein. „Ich erwarte Aussagen zu der Situation in der Wohnung und zu sämtlichen Besprechungen im Nachhinein.“