Mülheim. Mülheim verschenkt Möglichkeiten, die Stadt vom motorisierten Verkehr zu entlasten, meinen Kritiker. Ein Automobilclub zeigt, wie es gehen kann.
Allein in Mülheim pendeln gut 45.000 Menschen täglich aus, fast ebenso viele ein. Reichlich Druck lastet damit auf Mülheimer Straßen. Ausgerechnet ein Automobilclub schlägt jetzt vor, das Pendeln mit dem Pkw zu bremsen. Aber wie? In Mülheim hat der ACE, begleitet von der SPD, genauer hingeschaut und findet Mögliches wie Unmögliches zwischen Heißen und Saarn.
Mülheim macht zu wenig für Berufspendler – das zumindest kann der ACE-Regionalbeauftragte Roger Zwiehoff schon anhand der Aktenlage konstatieren: So hat die Stadt bislang kaum Park+Ride-Plätze geschaffen, sieht man einmal von kleinen Anlagen wie in Styrum ab. Die aber können aus Sicht des Automobilclubs den Straßenverkehr merklich entlasten, wenn dort ein direkter Anschluss an den Nahverkehr und das Fahrrad hergestellt wird.
Hier verschenkt Mülheim enormes Potenzial für eine entlastete Innenstadt
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Dafür braucht es viele gute Angebote: Ein verschenktes Riesenpotenzial hat der Automobilclub Europa etwa an der Stadthalle ausgemacht. Ideal, dass der Radschnellweg den üppigen – und die meiste Zeit leeren – Parkplatz schneidet. Und zudem fußläufig eine U-Bahn- und Busstation erreichbar ist. Nur an Park+Ride hat offenbar niemand gedacht.
Für Roger Zwiehoff wäre die Situation verhältnismäßig leicht zu ändern, indem man Plätze für Park+Ride – auch barrierefreie und Frauenparkplätze – ausweist, E-Ladestationen einrichtet, wetterfeste und abschließbare Fahrradboxen sowie Carsharing, um auch umgekehrt den Wechsel möglich zu machen. Die Beleuchtung auf dem Platz – ein wichtiger Sicherheitsaspekt – geht aus Sicht des ACE-Experten in Ordnung. Die etwas kostspieligere Variante und mit Hinblick auf die Kirmes genau zu planen: Man könnte hier auch ein eigenes P+R-Parkhaus mit Videoüberwachung errichten.
Das könnte sich lohnen, denn der Platz böte sich auch an, um die Innenstadt vom Autoverkehr zu entlasten – schließlich ist die von hier aus über den RS1 in rund fünf Minuten zu Fuß zu erreichen.
Und noch mehr Chancen, die Städte vom Autoverkehr zu entlasten, ohne dass die Nutzer auf viel Verzichten müssten, gäbe es, wenn P+R-Flächen schon an Autobahnkreuzen wie etwa am Kaiserberg eingerichtet würden, so der ACE.
Große Chancen auch für Mülheim-Heißen
Ein ähnliches Bild zeigt sich an der Heißener Kirche. Hier baggert seit Jahren der SPD-Ortsverein bei Ruhrbahn und Stadtverwaltung, um eine Mobilstation zu errichten. Die soll auch kommen – nur wann, kann niemand sagen. Die U-Bahn und eine zentrale Bushaltestelle unter anderem für die neuen Mülheimer Ringbuslinien gibt’s bereits am Platz, was noch fehlt, wären Fahrradboxen, Carsharing und eine ausgewiesene P+R-Fläche. Letztere könnte, wie der verkehrspolitische SPD-Sprecher Daniel Mühlenfeld vorschlägt, am öffentlichen Parkplatz zwischen Kirche und Heinrich-Lemberg-Straße hergestellt werden.
Auch der ACE hält den Ort für ideal, um Pendler, die normalerweise mit dem Auto über die nahe Autobahn zur Arbeit entweder in andere Städte oder in die Mülheimer Innenstadt fahren würden, schon hier aufzufangen. „Man muss natürlich die Pendlerströme abfragen“, sagt die Leiterin für Verkehrspolitik des ACE, Kerstin Bungert-Hurek.
Wo die Verkehrswende noch stottert
Doch lohnt es sich überall? Zweifel merken ACE wie SPD zur Mobilstation im Quartier an der Von-Bock-Straße an. Dabei wäre die Verkehrswende wohl gerade hier am nötigsten: Denn selbst zur Mittagszeit reiht sich hier ,Stehzeug an Stehzeug’. Sind die hier, weil die Alternativen schon so gut sind, oder sind es Pendler, die von Außen etwa zu den nahen Schulen und der Polizei wollen? Oder ist das der Verdrängungsverkehr aus dem Südviertel, wo vor einem halben Jahr das Bewohnerparken die öffentlichen Stellplätze fast halbiert hat? Für die Fachleute des Automobilclubs wie auch der Politik ist das nicht erkennbar.
Zumindest stehen schon zwei Carsharing-Plätze und einige Leihräder im Umfeld der U-Bahn-Station. Doch für mehr fehlt dem Viertel augenscheinlich der Platz – und Mühlenfeld die Fantasie: Hier gebe es keine Fläche für eine witterungsgerechte Unterbringung von Fahrrädern, sagt der SPD-Mann. Und wenn man Parkplätze dafür opfere, steige der Parkdruck weiter. „Warum will man eine Mobilstation gerade hier errichten, wenn der Platz so wenig geeignet ist?“
Auch für Kerstin Bungert-Hurek, die übrigens aus Mülheim kommt, scheint die Stelle fraglich, „zumal der Hauptbahnhof nur 200 Meter entfernt liegt“.
Vorbild Saarn: Mobilstation lobt ACE als „exzellent“
Als vorbildlich loben Politik und Autoclub indes die neue Mobilstation in Saarn. ÖPNV, Carsharing, Taxi, E-Ladesäule, Leih-Fahrräder, E-Scooter, dazu abgesenkte Bordsteine, gute Beleuchtung und verkehrssichere Übergänge entlocken Roger Zwiehoff ein „exzellent“. Das übrigens vergab der ACE in seiner deutschlandweiten Prüfung von P+R-Plätzen in nur gerade einmal sechs Prozent der untersuchten Fälle.
Wo also gilt es weiter anzusetzen? SPD-Landtagsmitglied und Mülheimer Rodion Bakum kritisiert, dass im Land viel zu wenig Mittel für die notwendige Verkehrswende in den Kommunen bereitgestellt werden: Gerade einmal 19,4 Millionen Euro seien bereitgestellt, 15,4 Millionen Euro davon werden den Kommunen zugeteilt. Für die Nahmobilität, insbesondere das Fahrrad, sei der Fördertopf aber drastisch gekürzt worden von 48 Millionen (2023) auf nunmehr 33 Millionen Euro (2024).
Die Verkehrswende in Mülheim – so laufen die Debatten
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Auch die Vorzeigestädte für die Verkehrswende – Kopenhagen und Wien – haben zum Teil 30 Jahre gebraucht, um den Umstieg zu schaffen, gibt der ACE zu bedenken.
ACE: „Wir müssen alle etwas dafür tun, unser Mobilverhalten zu überdenken“
„Wir müssen alle etwas dafür tun, unser eigenes Mobilverhalten zu überdenken“, meint ACE-Verkehrsexpertin Kerstin Bungert-Hurek. Und dies nicht nur aus Klimagründen, sondern auch der eigenen Gesundheit zuliebe. „Die Frage ist, wie ziehen wir unsere Kinder heran? Wird in den Schulen Verkehrskompetenz erworben? Können wir Elterntaxis vorbeugen?“
Für SPD-Politiker Mühlenfeld ist es daher umso weniger verständlich, dass aktuell ausgerechnet der Schulbusverkehr an den Bedarfen vorbeigeplant wurde: „Wir bekommen derzeit von Eltern die Rückmeldung, dass acht von zehn Schülern ins Auto gesetzt werden, um sie zur Schule zu fahren und sie wieder abzuholen.“ Fatal sei es deshalb auch, dass im Mülheimer ÖPNV gespart wurde, statt Anreize zu setzen: „Wir verlieren vielleicht nicht zahlreiche Kunden, aber wir gewinnen damit auch keine – die Verluste werden im Nachhinein größer“, rechnet Mühlenfeld schon mittelfristig mit einem gestiegenen Defizit der Ruhrbahn.