Mülheim. „Die Schulen explodieren. Und es wird wohl noch krasser.“ Mülheimer Sonderpädagoge wünscht sich deutlich andere Bedingungen für die Inklusion.
Beim Bildungsprotesttag am Samstag, 23. September, in Köln, will er unbedingt dabei sein, seinem Frust Luft machen. Und er hofft, dass noch andere Mülheimer dem Aufruf der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft folgen. Angesprochen sind Lehrer, Erzieher, Eltern und Schüler. Gemeinsam müsse man deutlich machen, wie schlecht die Situation an den Schulen mittlerweile ist, sagt der Sonderpädagoge, der an einer inklusiven Schule im Einsatz und „älter als 50 Jahre“ ist. Aus Sorge vor unangenehmen Folgen möchte er nicht mehr von sich preisgeben. Doch auch die UNO habe Deutschland ja schon bescheinigt, dass die Inklusion hier schlecht läuft. Man müsse also deutlich werden. Sein Bericht:
„Die Bedingungen im inklusiven Unterricht haben sich in den zehn Jahren, in denen ich dort tätig bin, stark verändert: Das empfinde ich als belastend. Früher waren wir an meiner Schule vier Sonderpädagogen, die sich um rund 30 Schüler und Schülerinnen gekümmert haben. Dann wurde es immer weniger. Mittlerweile bin ich der einzige Sonderpädagoge und zuständig für immerhin rund 80 Kinder und Jugendliche. Unterstützt werde ich von den Realschulkollegen und von Mitgliedern der multiprofessionellen Teams. Es gibt insgesamt zu wenige Menschen mit unserer Ausbildung. Früher kamen viele direkt vom Zivildienst, den sie an Förderschulen verbracht hatten. Die waren dann sehr motiviert fürs Studium.
Mülheimer Sonderpädagoge: „Individuelle Betreuung ist kaum noch möglich“
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Anfangs war ich hauptsächlich in zwei Klassen eingesetzt, konnte alle Hauptfächer und Nebenfächer begleiten. Jetzt schaffe ich gerade noch einige Hauptfächer. Ausbaden tun das die Schüler und Schülerinnen. Ich erinnere mich an meine erste inklusive Klasse. Die haben alle ihren Weg gefunden, zum Beispiel in der Altenpflege, der Kinderpflege oder im Handwerk. Wir konnten ihnen damals noch Perspektiven aufzeigen, sie begeistern, so dass sie gern gelernt haben. Heute wird das immer weniger, weil individuelle Betreuung kaum noch möglich ist.
Es ist schlecht, dass Regelschulen stärker in die Verantwortung genommen werden beim Thema Inklusion. Es ist eine sehr komplexe Aufgabe, Menschen mit geistiger Behinderung in den Regelunterricht zu inkludieren. Die haben einen anderen Bedarf an Betreuung, da genügt es nicht, den Unterricht punktuell zu begleiten. Regelpädagogen, die diesen Job miterledigen müssen, fühlen sich zum Teil völlig überfordert. Die Schulen werden ja auch immer voller. Und so wird es noch schwieriger, die Betreuung zu gewährleisten und differenzierte Arbeitsmaterialien zur Verfügung zu stellen.
„Ich bin frustriert, weiß nicht, wie ich den vielen Aufgaben Herr werden soll“
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Ich habe mich vor einigen Jahren freiwillig in die Inklusion versetzen lassen. Wegen der immer schlechteren Bedingungen bezweifle ich mittlerweile, dass das eine gute Idee war. Ich bin frustriert, weiß nicht, wie ich den vielen Aufgaben Herr werden soll. Die Schulen explodieren. Und es steht zu befürchten, dass es immer krasser wird.
Das sieht man auch auf dem Schulhof: Der ist total überfüllt. Ich habe Kollegen, die waren schon vier Wochen nach den Sommerferien wieder urlaubsreif, das habe ich noch nie erlebt. Und auch bei den Jugendlichen merkt man das. Da gibt es einen regelrechten Dichtestress, weil so viele Menschen da sind. Das Aggressionspotenzial ist gestiegen. In manchen Fällen sind Schüler total entgrenzt. Sie erkämpfen sich ihren Freiraum geradezu. Und leider bekommen auch viele Kinder das ganz normale Lernen nicht mehr hin.
„Der ganze Bildungssektor muss mehr Geld haben“
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Ich muss ständig damit rechnen, dass irgendwo die Hütte brennt, kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren. Ich wünschte mir einen festen Inklusionshelfer pro Klasse. Anstelle dessen soll jetzt sogar die Inklusionshilfe gekürzt werden. Das ist das falsche Signal. Der Bildungssektor muss unbedingt mehr Geld haben. Noch brenne ich für den Beruf des Lehrers. Aber langsam merke ich, dass ich keine Lust mehr habe. Ich bin nicht mehr so entspannt wie früher, fühle mich häufiger verzweifelt und allein gelassen.“