In dem Stück von Enis Maci werden die Mitwisser vor ein höheres Gericht zitiert. Drei reale Kriminalfälle behandelt die Gelsenkirchenerin.

Die Fünf tragen Gummimasken und Kapuzenpullis. Hin und wieder schleudern sie Boulekugeln, die krachend auf die Gitterfläche des Bühnenbodens knallen. Sie erinnert an ein Koordinatensystem. Dazu sprechen die Akteure des Wiener Schauspielhauses ein kaugumminuschelndes Schwarzenegger-Englisch.

DAS STÜCK
Das Szenario gleicht einer Gerichtsverhandlung. Aber es sind weder Staatsanwälte noch Rechtsanwälte, die das Kreuzverhör führen. Auch ist von keinem Richter ein Urteil zu erwarten. Dennoch ist bei Enis Maci von Beginn an klar. „Es trifft die eiserne Faust des Gesetzes die Mitwisser am schwächsten, mit einer Milde, die längst nicht mehr an mehr an Gnade grenzt, mit einer Milde nämlich, die viel mehr als Gnade ist.“ Drei Stimmen des Ökosystems führen hier die Verhandlung. Es sind drei, quasi weltumspannende, reale Kriminalfälle, die hier erörtert werden. So wurde der 17-jährige Tyler Hadley in einem Kaff in Florida zum Mörder seiner Eltern und schmiss anschließend ein Party; Nils Donath aus Dinslaken driftet zum islamischen Terrorismus und foltert im Namen des IS; schließlich tötet in der türkischen Provinz Nevin Yıldırım ihren Peiniger, der sie mehrfach vergewaltigt hat, und schleudert dessen Kopf auf den Marktplatz. Das verknüpft Maci mit der griechischen Mythologie. „Niemand hat Matt je zur Rechenschaft gezogen. Niemand hat je nach ihm gefragt“, heißt es. Matt ist einer der Partybesucher. „Wir haben ihm nicht geglaubt, weil es nichts zu glauben gab, wenn Sie mich fragen“, antwortet dieser ratlos. Die Mitwisser wollen am liebsten nichts mehr wissen.

Die Orte werden durch die Geo-Koordinaten exakt lokalisiert. Die Szenenbeschreibungen sind konkret, eher literarisch als in der Kontinuität des naturalistischen Schauspiels stehend. „Um 1990, im Westen des Ruhrgebiets, Vokuhilas, Schnurrbärte, Jeanswesten, die Beteiligten machen Bella Figura, sie haben Träume und riechen nach König Pilsener.“ So leitet sie „einen Abriss nicht ganz so vergangener Zeiten“ im Oberhausener Fußballstadion ein und schildert auch den Gerichtssaal bis ins Detail.

DIE AUTORIN
Macis hat den Status des Shootingstars der Gegenwartsdramatik. 17-jährig erhielt sie 2010 den Förderpreis des Literaturpreises Ruhr. Für die in Gelsenkirchen als Tochter albanischer Immigranten Geborene war die Enttarnung des NSU 2011 ein Schlüsselerlebnis und der Ausgangspunkt, nach den Biografien der zweiten Einwanderer-Generation zu fragen, wie sie im Gespräch mit Theater heute erzählt. „Es gab auf einmal eine Bestätigung, dass dieses Jucken nicht einfach nur paranoid ist. Es hat ja nun keiner versucht, mich auf der Dorfstraße zu klatschen. Mir geht es eher um so ein unterschwelliges Gefühl, als wäre man jemand, den es eigentlich gar nicht geben darf.“ Es überrascht nicht, dass Andreas Temme vorkommt. Er ist der V-Mann, der sich im April 2006, als Halit Yozgat durch zwei gezielte Kopfschüsse als neuntes NSU-Opfer getötet wurde, in dem Internetcafé aufhielt. Auch so ein Mitwisser.

Im Herbst hat sie bei Suhrkamp den Band „Eiscafé Europa“ mit acht Essays herausgebracht, in denen sie ebenso über albanische Schwurjungfrauen schreibt wie über Aktivistinnen der Identitären Bewegung oder Sophie Scholl. „Sie will im Schreiben nicht mehr über sich erfahren, sondern vor allem mehr über die Welt. Statt nach Antworten sucht sie nach den richtigen Fragen“, schreibt Julia Katz auf Zeit Online. Ihr gehe es darum, vom Persönlichen aufs Allgemeine zu schließen. Im Mittelpunkt stehe ein Phänomen, das sie von unterschiedlichen Seiten umkreise, mal assoziativ, mal als persönliche Erinnerung.

DER REGISSEUR
Regisseur Pedro Martins Beja, Jahrgang 1987, inszenierte bereits in Oberhausen („Hamlet“ und „Faust“) und Düsseldorf („Unter Eis“). Unauffällig-kongenial bringe er das Stück auf die Bühne, lobt Theater heute. Manchmal fällt ihm aber auch nichts ein, werde es dann sehr statisch auf der Bühne, heißt es in anderen Besprechungen.

PROMIFAKTOR
Enis Maci würde wohl googeln, wenn sie etwas über die Schauspieler erfahren möchte, die in ihrem Stück mitspielen. So hat sie sich auch die Information über die Kriminalfälle besorgt. Im Anhang spiegelt sich das wider. Auffallend hierarchiefrei sind dort, wie in ihrem Essayband, ihre Quellen aufgelistet. Dort findet sich die Internetadressen diverser Zeitungsartikel ebenso wie Youtube-Videos, Verweise auf Google, diverse Homepages und Wikipedia, was bei wissenschaftlichen Arbeiten ebenso ungern gesehen wird, wie das Zitieren aus Brockhäusern und Enzyklopädien.

Dass Internetsuche in die Irre führen kann und nicht so zuverlässig ist wie erhofft, zeigt sich an ihr selbst. So soll die 25-Jährige bereits diverse Studiengänge, Medizin, Wirtschaftswissenschaften und Politik abgeschlossen haben, bevor sie am Literaturinstitut in Leipzig Literarisches Schreiben studierte. Letzteres hat sie tatsächlich abgeschlossen, Medizin aber alsbald abgebrochen. Ein paar Semester Kultursoziologie hat sie ebenfalls tatsächlich absolviert.

Bei Wikipedia, wo immer mehr Schauspieler einen Eintrag haben, könnte man dann sehen, dass Lilly Epply bereits in einem James-Bond-Film mitgewirkt hat. In „Spectre“ spielte sie zwar nicht das Bond-Girl und ist auch nicht in der Rollenauflistung aufgeführt. Als Snowboaderin bewies sie aber offenbar Tempo. Eine größere Rolle spielte die 24-jährige Wienerin in „Ostwind“ und wurde als beste Nachwuchsschauspielerin für den Romy nominiert. Sie erinnert, laut Nachtkritik, „in ihrer Rolle als Selbstjustizia im bodenlangen Paillettenkleid an Uma Thurmann in ‘Kill Bill’, die trotz moralischer Fragwürdigkeit der Inbegriff der Coolness ist.“

DIE STÄRKE
„Bei alledem ist „Mitwisser“ sprachlich höchst originell, präzise und absolut gegenwärtig, ohne musterschülerhaft oder Zeitgeist-Slang-verkrampft zu sein“, lobt Christine Wahl in Theater heute. Auch Nachtkritik hält mit: „Ein brillanter, unverschämt überfordernder Text über Schuld, Gewalt und Rache, über Drogenparties und Ehrenmorde, der vom Ästchen aufs Stöckchen kommt oder, in der Sprache des Web 2.0, von einem offenen Tab zum nächsten.“

DIE SCHWÄCHE
„Lesen Sie dieses Stück“, schreibt Nachtkritik, denn einiges ist nicht darstellbar. Dazu gehören die Szenenbeschreibungen.


UNTERHALTUNGSPOTENZIAL
Nichts für Zartbesaitete.

FESTIVALBAROMETER
Außenseiterfavoritin.


DER TERMIN
Freitag, 31. Mai, 19.30 Uhr, und Samstag, 1. Juni, 18 Uhr im Theater an der Ruhr (im Anschluss Jurysitzung); Karten 24 Euro,