Mülheim. . In „Atlas“ verschränkt Thomas Köck die Teilungsgeschichten Deutschlands und Vietnams miteinander und verknüpft diese mit einer Familiengeschichte.

Thomas Köck, der im vergangenen Jahr mit „Paradies spielen“, dem dritten, aber für ihn wohl doch nicht letzten Teil seiner Klima-Trilogie, mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, ist zweifellos einer der interessantesten, versiertesten und originellsten Theaterautoren der Gegenwart. „Thomas Köck hat sich in die erste Liga der neuen Dramatik geschrieben“, stellt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen fest. Das Auswahlgremium, dem sie angehört, tat sich schwer mit der Entscheidung, welches der beiden Stücke sie zum Wettbewerb eingeladen sollten.

Neben „Atlas“ stand „Die dritte Republik - eine Vermessung“ zur Wahl. Es ist ein Stück vom Ende des ersten Weltkriegs, für das Köck virtuos aus dem Vollem schöpft, sich bei Franz Kafka ebenso bedient wie bei Thomas Pynchon und Jim Jarmusch und vor allem ein Ziel hat: den Rechtspopulismus der Gegenwart. Das ist auch in „Atlas“ das Thema: Der geschichtliche Rückgriff wird zur Gegenwartsparabel über Flucht, Migration und Abschottungstendenzen, schreibt Christine Wahl in „Theater heute“ und lobt: „Klüger und genauer, zeitgemäßer und zeitloser hat man das lange nicht gelesen in der Gegenwartsdramatik.“ Im vergangenen Jahr erhielt Köck den mit 20.000 Euro dotierten Literaturpreis „Text & Sprache“ der Deutschen Wirtschaft. Die Begründung der Jury, die „das staunenswerte Œuvre“ betonte, lautete: „Köck ist gesellschaftspolitisch auf der Höhe der Zeit, seine Sprache ist stilistisch reif, seine Geschichten sind intelligent durchgeformt. Die Art und Weise, wie er Themen orchestriert, setzt eine ‘Beunruhigungsmaschine’ in Gang, die Köcks Publikum auf eine höchst produktive Weise ergreift.“


DAS STÜCK
Ganz schön viel Aufmerksamkeit und Lob für einen erst 31-Jährigen, der in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zum Nachwuchsautor von 2018 gekürt wurde. In „Atlas“ verknüpft Köck nun Orte, Zeiten, Schicksale, Geschichte und weltgeschichtliche Krisen mit dem privaten Drama, wobei die Reflexion nicht zu kurz kommt. Er verschränkt die Deutsche und Vietnamesische Geschichte über drei Generationen und entwickelt eine ungewöhnliche und mitreißende Perspektive auf die politische Wende 1989 und eine vietnamesische Familie, die ihre Spuren in West- wie in Ostdeutschland hinterlassen hat.

Im Mittelpunkt steht die Suche nach verloren geglaubten Menschen, nach Geschichte und einer Erklärung. Als Beweis dient ein verblichenes Foto. Schauplätze sind trostlose Flughäfen und das Historien-Triptychon zur Pariser Kommune des Leipziger Malers Bernhard Heisig, der durch sein Portrait des Kanzlers Helmut Schmidt bekannt wurde. Die Geschichte entspinnt sich langsam. Die Großmutter floh kurz nach dem Ende des Vietnamkrieges 1975 aus Saigon auf die Flüchtlingsinsel Pulau Bidong. Sie gehörte zu den Boatpeople, die nach Westdeutschland gelangten. Entgegen ihrer Annahme ertrank ihre Tochter nicht, als das überfüllte Boot sank, sie wurde adoptiert und gelangte als Gastarbeiterin in den sozialistischen Bruderstaat. „Ich wollte die Welt sehen und landete in der Fabrik“, sagt sie. Zu viert in drei Zimmern, alles ist streng reglementiert, Schwangerschaften führen zu Vertragsbruch. „Mit guter Laune kommt der Fortschritt“, heißt es zur Begrüßung. Fidschis lautete das Schimpfwort. Man denkt an die Belagerung des Sonnenblumenhauses in Rostock-Lichtenhagen 1992.

Es sind Geschichten, „die man sich dann erzählt, wenn man wissen möchte, wer man ist; Geschichten, die sich ganze Staaten erzählen müssen, wenn sie wieder zu sich finden.“, heißt es einmal. Immer wieder thematisiert Köck die Zeit. Was heißt es, aus der Zeit zu fallen? Im Deutschen signalisieren die Verben die Zeit, im Vietnamesischen ergibt sich das aus dem Kontext. Traumatisierte haben ein anderes Zeitgefühl. Die Großmutter hat das verloren geglaubte Kind aus dem Leben verdrängt, doch die Szene der Trennung bleibt ihr ewig Gegenwart.


DER REGISSEUR
Regisseur Philipp Preuss ist in Mülheim kein Unbekannter mehr. Am Theater an der Ruhr hat er Leonce & Lena sowie Am Königsweg von Jelinek inszeniert. Helmut Schäfer und Roberto Ciulli wollen ihn fester ans Haus binden. Preuss ist Hausregisseur in Leipzig, wo er vor einigen Tagen Kleists „Prinz von Homburg“ zur Premiere gebracht hat. Kürzlich hat er in Nürnberg Macbeth inszeniert. Ein eigenwilliger, aber konsequent verfolgter Zugriff auf ein Thema zeichnet seine Arbeiten aus sowie ein innovativer Umgang mit Video. In „Atlas“ habe der 45-Jährige einen wirkungsvollen Weg gefunden, Köcks Erzählweise zu spiegeln und die Perspektive zu erweitern, schreibt Fiedler. Aufgeführt wird das Stück nicht im großen Saal, sondern in der Diskothek. Dort sitzt das Publikum mit Blick auf drei große Schaufenster. Gespielt wird drinnen, draußen vor dem Fenster und sogar auf der spärlich beleuchteten anderen Seite der vierspurigen Straße, auf der vor dreißig Jahren „Wir sind das Volk“ skandiert wurde. Unmöglich, in Mülheim ein Pendant zu finden. Die Dezentrale an der Schloßstraße ist immerhin eine Annäherung. „So minimalistisch hat man Preuss noch nie arbeiten sehen“, heißt es auf Nachtkritik. Sind der blaue Trabbi und Porsche auf der Straße Zufall oder Absicht?


DER PROMIFAKTOR
Aus dem Leipziger Ensemble hervorzuheben ist Ellen Hellwig. Die 1946 in Trondheim geborene Schauspielerin war 40 Jahre lang in Leipzig engagiert, arbeitete mit vielen renommierten Regisseuren. Als Sebastian Hartmann 2010 das Theater „neu erfinden wollte“ und das Publikum verstörte, verließ sie wie einige andere das Haus und wechselte nach Chemnitz. Unter neuer Leitung ist die 73-Jährige, die auch als Professorin und Synchronsprecherin arbeitete, nun im Leipziger Ensemble Ehrenmitglied.
DIE STÄRKEN
Zweifellos ist die Stärke die Kraft der Sprache und ihr Rhythmus. Köck ist auch Musiker. Die Sprache mit lyrischer Qualität stolpert wie ein Musikstück mit regelmäßigen Synkopen. Mit dem letzten Wort der Zeile beginnt der neue Satz. Das macht das Lesen beschwerlich. Am besten liest man laut.

DIE SCHWÄCHEN
Köck verzichtet zudem auf Satzzeichen, Rollenzuweisungen, schreibt konsequent klein. Die Figuren bleiben nur ahnbar und müssen erschlossen werden. Das macht Mühe.

FESTIVALBAROMETER
Kopf-an-Kopf-Rennen mit Jelinek
UNTERHALTUNGSPOTENZIAL
Die Sprache entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Gänzlich humorlos ist „Atlas“ nicht.

DIE TERMINE
28. und 29, Mai in der Dezentrale, 19.30 Uhr; Karten, Touristinfo im Medienhaus: 24 Euro