Sibylle Berg ist das grimmige Orakel des Spätkapitalismus. In „Wonderland Ave“ warnt sie vor dem Triumph der künstlichen Intelligenz

Sibylle Berg befasst sich seit Monaten intensiv mit der Zukunft, um so Antworten auf die Gegenwart zu finden. Gerade ist ihr opulenter Roman mit dem sperrigen Titel „GRM - Brainfuck“ erschienen, der auf der Spiegel-Bestseller-Liste auf Platz 4 steht. Mehr Härte als in diesem über 600 Seiten langen Text sei kaum vorstellbar, stellt Ursula März in der ZEIT fest, die diesem Roman in Hassliebe verfallen ist. Schon der Begriff Kulturpessimismus wirke etwas zu nett für diese unnachgiebige Litanei, die in der Tradition der apokalyptischen Rede stehe und doch voller Empathie sei. Dem 1962 in Weimar geborenen grimmigen Orakel des Spätkapitalismus entgehe trotz aller Tendenzen zum Divenhaften kein Schrecken der gesellschaftlichen Entwicklung – auch kein Schritt der künstlichen Intelligenz, die auf dem Vormarsch ist.
DAS STÜCK
Genau hier setzt „Wonderland Ave.“ an. Es ist bereits ihr 25. Theaterstück, das am Kölner Schauspiel uraufgeführt wurde. Möglicherweise ist es ein Abfallprodukt des Romans, wer weiß? Die Fülle des Romans steht aber im Kontrast zur Reduziertheit des Theaterstücks, das einem großen Dialog gleicht. Auf der einen Seite steht ein Mensch, auf der anderen die überlegenen Roboter.

Das Szenario ist reizvoll. Selbstverschuldet aus Bequemlichkeit und Lethargie hat sich die Menschheit in die Abhängigkeit von Robotern begeben. „Offenbar hat sich in den letzten Jahren vor Stückgebinn eine zunehmend geistlose, konsumorientierte Leistungsgesellschaft selbst den Garaus gemacht“, schreibt Klaus Wille in Theater heute. Erst konnten sie die steigenden Mieten nicht mehr tragen, eine Weile ging es noch, sich mit mehreren Jobs gleichzeitig über Wasser zu halten, aber irgendwann landeten sie doch auf der Straße. Die immer perfekter werdenden Maschinen haben das Elend schließlich nicht mehr mit ansehen können. „Sie haben die auf den Hund gekommene Restmenschheit eingesammelt, in hübsche Lager à la ‘Wonderland Ave.’ verbracht, wo sie einem rigiden Gefängnis-Tagesablauf unterworfen und noch für finale Gladiatorenkämpfe gehalten werden“, schreibt Wille und spricht von einem Kuschel-KZ. Die Maschinen scheuen sich, das bevorstehende Ende zu benennen.

DER REGISSEUR
Das Szenenbild löst wie so oft bei Ersan Mondtag einen Wow-Effekt aus. Das 31-jährige Regie-Wunderkind hat den Triumph der künstlichen Intelligenz und die Unterwerfung des menschlichen Existenz in ein Museum verlegt. „Mondtags Bühne ist grandios und weit interessanter als noch das düsterste Detail aus Bergs Menschenpark-Fantasie“, schreibt Martin Krumbholz auf Nachtkritik. „Allen Anschein nach will die Regie mit enormen Einsatz und Aufwand die Ödnis der Textwüste aufpeppen, denn Bergs Werk ist weniger eine brauchbare Vorlage fürs Theater als ein gesinnungsethischer Diskurs für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.“ Dass Regie und Text nicht ideal zusammen passen, ist auch in der Süddeutschen und im Kölner Stadtanzeiger nachzulesen, wobei die Ursachen unterschiedlich beurteilt werden.

Der Regie-Shootingstar, der vor zwei Jahren gemeinsam mit Olga Bach („Die Vernichtung“) bei den Stücken debütierte, ist so selbstbewusst wie sprachgewandt. Kürzlich forderte er, ihm die Volksbühne zu übertragen. Er wuchs in beengten Verhältnissen mit seinen zwei Geschwistern in einem Hochhaus auf 60 Quadratmetern auf. In einem Portrait von Theater heute erinnert er sich, dass er unter der häuslichen Gewalt litt und kein Deutsch sprechen durfte. Mond-Tag ist die Übersetzung seines zweisilbigen ursprünglichen Namens: Ay-gün. Von der Hauptschule wechselte er auf die Realschule, später holte er das Abitur nach. Da hospitierte er bereits bei den führenden Regisseuren von Castorf bis Peymann. Seit seinem 13. Lebensjahr ist seine Theaterbegeisterung ungebrochen. Schon mehrfach wurde er zum Theatertreffen eingeladen, aktuell mit „Das Internat“ und dem Theater Dortmund, was in Berlin aus dispositorischen Gründen nicht gezeigt werden kann. Dennoch wurde ihm der mit 10.000 Euro dotierte 3sat-Preis des Festivals zugesprochen. Jelinek am Burgtheater inszenieren, ist so ein Traum, den er dem österreichischen Standard nannte. Immer wieder schafft er beängstigende Räume in grellen Farben, die von David Lynch ebenso beeinflusst scheinen wie von Arnold Böcklin. Immer wieder treten dabei die erbärmlichen Existenzen in einer überdimensionierten zweiten Haut voller Schrunden auf.

DER PROMIFAKTOR
Den sich gegen die Maschinen sanft auflehnenden Menschen hat Mondtag doppelt und prominent besetzt: Mit Bruno Cathomas, dessen nachgebildeter Körper überdimensioniert die Bühne beherrscht, und mit Kate Strong. Es sind quasi Adam und Eve am Ende der Schöpfung. Strong, die 1961 in London geboren wurde, hat wiederholt mit Mondtag gearbeitet. Sie ist ursprünglich Tänzerin, hat den Ballettstil von William Forsythe von Beginn an deutlich geprägt, arbeitete dann mit Johann Kresnik und verbrachte später wichtige Jahre mit Castorf an der Volksbühne. Sie stifte zum Experimentieren an und die Grenzen des Möglichen auszuloten, lobt Mondtag.
DIE SCHWÄCHE Der Text hat keine Entwicklung. „Seine Dramaturgie ist vollkommen statisch, entbehrt eines Spannungsbogens und gemessen daran ist dieser Abend ein Wurf“, so Krumbholz.

DIE STÄRKE
Der Wortwitz und die Schärfe von Sibylle Berg.
DER TERMIN
Samstag, 11. Mai, 19.30 Uhr, Stadthalle, Karten: 24 bis 37 Euro