Mülheim. . Die Gastspiele gaben einen lebendigen Überblick über Tendenzen des arabischen Theaters. Packend: Frauen, die ihr Leben als Häftlinge spielen
Kraftvoll und voller Sehnsucht klingt der Klagegesang, den die syrische Opernsängerin Lubana Al Quntar auf der dunklen Bühne anstimmt. Aus dem Publikum im Theater an der Ruhr stehen nacheinander sechs Personen auf und stellen sich mit einem prägnanten Satz aus ihrer Biografie vor, die in den nächsten eindrucksvollen 60 Minuten vorgestellt wird, wobei es um ein Thema geht, das alle verbindet: die Inhaftierung im berüchtigten Frauengefängnis Adra. Es sind Laien, die in X-Adra ihre Geschichte spielen.
Mit dem aus Syrien stammenden und in Frankreich lebenden Regisseur Ramzi Choukair haben sie daraus ein Stück entwickelt, das Anfang des Jahres in Mulhouse uraufgeführt und jetzt am Raffelberg bei der Theaterlandschaft das Publikum beeindruckte.
Scham und Hilflosigkeit
Die Frauen stammen aus unterschiedlichen Generationen, verbüßten unterschiedlich lange Haftstrafen und wurden aus unterschiedlichen Gründen verhaftet. Da ist die Frauengruppe, die ein Zeichen gegen die Diktatur setzen wollte, sich Hochzeitskleider besorgte und Parolen auf Transparente schrieb und so in einem belebten Viertel demonstrierte. Ob unter dem alten Assad, dem jungen, vor oder nach der Revolution, die Hölle war die Haft immer. Aber es ist weniger die Pein der Folter, die der Abend thematisiert, als die Umstände der Verhaftung und die Reaktionen der Familien. Es ist ein kühler, sachlicher Ton, in dem die Geschichten erzählt werden.
Aus Scham, Hilflosigkeit und Angst reagieren sie mit Verdrängung und Tabuisierung auf das Leid, das ihren Töchtern widerfahren ist. Eine junge Frau wird mit ihrem Cousin zwangsverheiratet. Einige Jahre später kann sie sich gleich mehrfach emanzipieren. Die junge Mutter wagt die Trennung, legt das Kopftuch ab und wagt sich mit ihrer Geschichte an der Seite der anderen Frauen auf die Bühne, was Kraft kostet, für alle befreiend und erleichternd wirkte, wie sie anschließend im Publikumsgespräch erzählen. Eine andere Frau unterzog sich einer Geschlechtsumwandlung, was noch mehr Mut erfordert.
Krieg, Flucht und Gewalt als thematischer Rahmen
Krieg, Flucht und Gewalt ist der thematische Rahmen, in dem sich die Beiträge der Theaterlandschaft Mittelmeer bewegen. Mit einer breiten Palette vermitteln sie einen guten Überblick über die aktuellen Tendenzen des arabischen Theaters. Neben den Aufführungen lasen Ensemble-Mitglieder auch Texte syrischer Emigranten. In „Tin Pit“ (Schrottplatz) hält Wasim Ghrioui einerseits die in der Emigration zu verblassen drohende Erinnerung an die Heimat Damaskus wach. Aber er zeigt auch, welche krankhaften Entwicklungen unterschwellig in der Gesellschaft wucherten und sich schließlich in dem furchtbaren Krieg entladen mussten. An der Staatsoper Hannover ist daraus Musiktheater geworden.
Ganz unspektakulär wie eine Sitcom beginnt Carnivorous des libanesischen Autors, Regisseurs und Schauspielers Issam Bou Kahled, der damit zum fünften Mal im Theater an der Ruhr zu Gast ist, wo er erstmals mit seiner Frau Bernadette Houdeib, die in ihrer Heimat ein gefeierter Filmstar ist, auf der Bühne steht. Doch statt bildmächtig, wie man ihn kennt, glänzt er nach fünfjähriger Pause, in der er vor allem gedreht hat, nun mit einem brillanten Text, der Themen und Motive raffiniert verzahnt. Ein älteres Ehepaar neckt sich eher aus Langeweile, als dass für den harmlosen Streit ein Grund bestehen würde. Bissig geht es um Facebook und Religion, tatsächlich ist er Moslem, sie Christin, da knallt mit einem Facebook-Post die Realität in ihr Leben. Ihr Sohn scheint ein Selbstmordattentäter.