Kamp-Lintfort/Moers. .

Ein Jugendlicher war des Mordes an einem Obdachlosen in Kamp-Lintfort angeklagt, kam aber mit einem Jahr auf Bewährung davon. Der Rechtsanwalt, der einen weiteren Angeklagten verteidigt hatte, hält das Urteil für „mutig“.

Ganz Kamp-Lintfort kennt nur ein Thema: das Ur­teil im Pappelsee-Prozess. Der des Mordes an einem Obdachlosen angeklagte 17-Jährige bekam ein Jahr auf Bewährung, da ihm die Richter einen Mord nicht nachzuweisen vermochten.

Bei DerWesten äußern die Leser völliges Unverständnis, auch am Telefon machen sie ihrem Ärger Luft. Wie Staatsanwalt Stefan Müller am Dienstag mitteilte, legte er be­reits Revision gegen das Urteil ein.

Der Moerser Rechtsanwalt Stephan Küppers verteidigte in dem Prozess den Ju­gendlichen der gestanden hatte, den Obdachlosen zwei Mal getreten zu haben. „Mein Mandant ist froh, dass mit Sicherheit festgestellt worden ist, dass die beiden Tritte, die er dem Opfer versetzt hatte, zweifelsfrei nicht zum Tod des Opfers geführt haben“, so Küppers. Obwohl sein Mandant mit dem Tod des Obdachlosen nichts zu tun habe, belaste er ihn schwer.

„In dubio pro reo“ darf nicht angestastet werden

Das Urteil, das die Richter über den Hauptangeklagten fällten – der Freispruch vom Vorwurf des Mordes – hält Küppers für „mutig“ und „nicht medienfreundlich“. „Der Grundsatz lautet: Eine Verurteilung kann nur dann erfolgen, wenn vernünftige Zweifel schweigen.“ Wenn die fünfköpfige Strafkammer diese Zweifel hege, so müsse sie freisprechen.

Im Zweifel für den Angeklagten – dieser Grundsatz dürfe nicht angetastet werden, so Küppers weiter. Aber: „Es dürften sicherlich Tatumstände vorliegen, die eine abweichende Bewertung gerechtfertigt hätten.“ Mit anderen Worten: Er hätte eine Verurteilung wegen Mordes durchaus für möglich ge­halten.

Küppers weiter: „Die Richter führten im Urteil aus, dass es sehr nahe liegen würde, dass der Angeklagte es gewesen sein könnte. Es sei weniger wahrscheinlich, dass zwei an­dere der vier Jugendlichen es getan hätten. Ein ,unbekannter Dritter’ wurde als Täter ausgeschlossen.“ Vier Jugendliche hatten den Obdachlosen in der Tatnacht drangsaliert, zwei von ihnen waren allerdings verschwunden, bevor es ernst wurde.

Des Verteidigers Meinung zum Plädoyer des Staatsanwalts: „Es war sehr gut.“ Dass Stefan Müller Revision einlegt, überrascht ihn nicht. Zum Grundsatz „in dubio pro reo“ erklärt Staatsanwalt Müller: „Auch nach der durchgeführten Beweisaufnahme habe ich keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten. Ich meine, die Beweismittel hätten zu ei­ner Verurteilung ausgereicht.“ Wie aus dem Prozessumfeld zu hören ist, soll der Hauptangeklagte zu zwei der anderen Jugendlichen gesagt haben: „O fuck, Mann, der ist tot.“

Rechtsanwalt Markus Goergen aus Kamp-Lintfort vertrat in dem Prozess die Verwandten des Opfers. Auch er will, nachdem er heute mit seinen Mandanten gesprochen hat, prüfen, ob er Revision einlegt. Für die An­gehörigen des Ermordeten war das Urteil offenbar ebenso ein Schock wie für viele Kamp-Lintforter, die sich gestern in der Redaktion meldeten.

Schon in der Schule auffällig gewesen

Vier Jugendliche begannen in der Nacht zu Pfingstsonntag 2010 – wohl aus Langeweile – einen 51-jährigen, sehbehinderten Obdachlosen zu drangsalieren, der in einem Auto am Pappelsee lebte. Kurze Zeit da­rauf lag dieser tot auf dem Parkplatz, Tage später wurde ein damals 16-Jähriger als sein mutmaßlicher Mörder verhaftet. Wie aus dem Schulumfeld des heute 17-Jährigen zu hö­ren ist, war er nicht dumm – aber im Januar 2008 wurde ein Verfahren eingeleitet, ihn an eine Sonderschule zu überweise. Begründung: eine fehlerhafte sozial-emotionale Entwicklung. Zuvor war sein Verhalten Gegenstand mehrerer Klassenkonferenzen gewesen; schon in der Grundschule war er auffällig geworden.

Am Montag sprachen fünf Richter ihn nun vom Vorwurf des Mordes frei – aus Mangel an Beweisen. Wird der Revision stattgegeben, muss der Prozess von vorne beginnen. Vielleicht ha­ben dann auch die neuen Richter Zweifel an der Schuld. Stephan Küppers verweist auf den Satz von Immanuel Kant: „Die Notwendigkeit zu richten geht weiter als die Möglichkeit zu erkennen.“