Moers. Überraschende Wende im Prozess gegen einen Tankstellendieb in Moers: Ausgerechnet die Aussage seines Kollegen setzt einen Polizisten unter Druck.

Der Prozess zur Aufarbeitung der Geschehnisse an der Moerser Shell-Tankstelle vom 5. April 2023 nahm gleich zu Beginn einen überraschenden Verlauf. Nicht der Beschuldigte auf der Anklagebank im Saal 106 des Moerser Amtsgerichtes, ein 26-Jähriger aus Eritrea, war es, der beim ersten Verhandlungstermin am Montag, 22. April, unter Druck geriet. Vielmehr steht die Kammer um den Vorsitzenden Richter Benjamin Barb vor der Frage, ob der psychisch kranke Mann den ihm vorgeworfenen tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung überhaupt begangen hat. Andernfalls könnten die drei Schüsse, die ein 25-jähriger Polizeibeamter vor der Tankstelle an der Uerdinger Straße auf ihn feuerte, womöglich sogar unbegründet gewesen sein. Der Beamte muss sich in einem separaten Verfahren verantworten.

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In der Tankstelle hatte sich der Beschuldigte die sieben Zentimeter lange Klinge eines Schälmessers an die eigene Kehle gehalten und Schnittbewegungen angedeutet. Auf eine Ansprache der Kassiererin und eines weiteren Mitarbeiters habe er nicht reagiert. Im Zeugenstand berichten beide Mitarbeiter, der Mann habe verwirrt und geistesabwesend gewirkt. „Es war so, als ob ich mit einer Wand geredet hätte“, sagt der Mitarbeiter, der die Tankstelle später über den Notausgang verließ und dabei die Polizei alarmierte. Seine Kollegin schloss sich aus Angst auf der Toilette ein. Kurz bevor der erste Streifenwagen eintraf, habe der Beschuldigte einen Lolliständer umgerissen, sich eine Flasche Wodka sowie eine Packung Zigaretten aus dem Regal genommen und sei „ganz langsam und tiefenentspannt“ aus dem Verkaufsraum herausgegangen.

Vorfall vor Moerser Tankstelle: Polizist schoss psychisch Kranken an

Vor der Tankstelle traf der 26-Jährige gleich auf die Polizei. Und ab diesem Moment wird die Aufarbeitung der Ereignisse für die Kammer schwierig. Denn: Die drei Beamten, die am Montag als Zeugen im Verfahren aussagten, schilderten drei verschiedene Varianten des Geschehens. Version eins stammt von dem Polizisten, der von seiner Schusswaffe Gebrauch gemacht hat. Von den drei abgefeuerten Schüssen trafen den Angeklagten zwei im Bereich des Unterkörpers. Mit zu diesem Zeitpunkt lebensgefährlichen Verletzungen wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Der Schütze beteuert, dass der Beschuldigte zunächst die entwendete Wodka-Flasche auf seinen Kollegen geworfen hätte. Im Anschluss sei er „in aggressiver Weise“ mit erhobenem Messer auf ihn zugelaufen: „Ich habe ihm gesagt, er soll das Messer fallenlassen. Dann ging alles sehr schnell.“

Der Kollege, der gemeinsam mit dem späteren Schützen zum Tatort gefahren war, beteuert dagegen, sich an den Vorfall von vor rund einem Jahr nicht erinnern zu können. Er wisse nicht einmal sicher, ob er von einer geworfenen Wodka-Flasche verletzt worden sei. Auf die ungläubigen Nachfragen der Kammer reagierte er gereizt: „Wir können ja gerne mal die Position tauschen. Mal gucken, ob Sie sich dann an jeden Einsatz erinnern können.“ Er habe den Vorfall bei der Polizeiseelsorge aufgearbeitet und anschließend verdrängt.

Prozess in Moers: Polizist widerspricht vor Gericht der Aussage seines Kollegen

Die Zweifel der Kammer an der Notwendigkeit der Schüsse nährte die Aussage eines dritten Polizeibeamten, der den Tatort wenig später erreicht hatte und das Geschehen aus kurzer Distanz beobachtet hatte. Laut seiner Darstellung habe sich der Angeklagte lediglich unkoordiniert auf der Stelle bewegt. Der Mann hätte weder aggressiv gewirkt, noch habe er etwas geworfen oder sei auf einen der Polizisten losgegangen: „Ich weiß nicht, was den Kollegen dazu bewegt hat zu schießen. Ich konnte keinen tätlichen Angriff erkennen.“

Der Angeklagte selbst sei zu dem Zeitpunkt der Tat in einem akut psychotischen Zustand gewesen. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft sei er als nicht schuldfähig einzuschätzen. Der Angeklagte berichtet von suizidalen Gedanken und Traumata aus seinem Heimatland. Sein Vater sei 2005 auf ominöse Weise in einem Militärgefängnis gestorben. Weil er selbst den Dienst verweigern wollte, sei er im Jahr 2014 durch Militärkräfte festgenommen und misshandelt worden. In der Folge habe sich der damals 16-Jährige zunächst einige Tage in einem Dschungel versteckt und sei dann unter Todesangst allein nach Deutschland geflüchtet. Vor der Tat war der Beschuldigte bereits in psychiatrischer Behandlung. Seine Medikamente habe er kurz vor dem 5. April 2023 aufgrund von Nebenwirkungen abgesetzt. Zudem habe er in diesem Zeitraum häufig Drogen konsumiert. Vorstrafen hat der 26-Jährige nicht. Im Raum steht eine dauerhafte Unterbringung in einem psychiatischen Krankenhaus.

Gerichtsverhandlung in Moers: Wird Angeklagter nur wegen Diebstahls verurteilt?

Doch ob der Angeklagte überhaupt wegen eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und versuchter gefährlicher Körperverletzung verurteilt wird, ist nach dem ersten Verhandlungstermin fraglich. Im Anschluss an die Zeugenaussage des dritten Polizeibeamten zog sich die Kammer zur außerplanmäßigen Beratung zurück. „Wir haben Schwierigkeiten, strafbare Handlungen festzustellen“, sagte Richter Benjamin Barb. Auch der Gedächtnisverlust des zweiten befragten Polizisten ist aus Sicht der Kammer nicht nachvollziehbar. Bis zum Fortsetzungstermin am Mittwoch, 24. April, wollen Gericht und Staatsanwaltschaft klären, ob überhaupt weitere Zeugen geladen werden müssen. Sollte kein Angriff des 26-Jährigen auf die Polizei nachzuweisen sein, bliebe es bei einer Verurteilung wegen Diebstahls von einer Flasche Wodka und einer Packung Zigaretten.