Neukirchen-Vluyn. Carolina Janßen ist in Mannheim aufgewachsen, nach Duisburg gezogen und wollte raus aus der Stadt. Warum sie in Neukirchen-Vluyn glücklich ist.
Über den Feldern und Waldwegen hängt dichter Nebel an diesem Dezembermorgen, kein Auto, kein Spaziergänger ist unterwegs. Die Sicht ist schlecht, so dass das große weiße Gebäude plötzlich aus dem Dunst auftaucht. Es ist das einzige Haus auf dieser Straße, dahinter liegen die Nieper Kuhlen und der Golfplatz beginnt einige Hundert Meter weiter. Hierher, mitten aufs Land, aber doch nur einige Minuten vom Neukirchen-Vluyner Stadtkern entfernt, ist Carolina Janßen vor zehn Jahren mit ihrer Familie gezogen. „Ich habe es nie bereut“, sagt die 43-Jährige. „Es war die beste Entscheidung, ich hatte die Stadt so satt, wollte nur noch weg.“
Dabei ist die gebürtige Mannheimerin ein echtes Großstadtgewächs, verbrachte die ersten 27 Jahre ihres Lebens in der zweitgrößten baden-württembergischen Stadt. „Und zwar wirklich mittendrin, meine Freunde wohnten in den Benz-Barracken, die kennt man mittlerweile aus der RTLII-Doku über soziale Brennpunkte“, erzählt Janßen. Da habe sie ein großes Gefühl von Gemeinschaft kennengelernt - aber eben auch viele Probleme.
Mit 27 Jahren verschlug es sie von Mannheim an den Niederrhein
Eine Tochter und einen Sohn bekam sie mit Anfang 20, bevor es sie der Liebe wegen mit 27 Jahren nach Duisburg-Rumeln-Kaldenhausen verschlug. „Die erste Nacht in der neuen Wohnung war ein Schock für mich“, sagt sie. „Ich kam gar nicht mit der Ruhe zurecht, es gab kein Geräusch von draußen, während in Mannheim zu jeder Uhrzeit Lärm war.“ Eine Umstellung, die ihr schnell gefiel. „Wir haben dann nach einem Häuschen geguckt, weil uns die Wohnung zu klein war und wir einen Garten wollten.“
Fündig wurden sie zunächst in Moers-Kapellen, aber das Haus war baufällig und sie hielten die Augen weiter offen nach dem perfekten Grundstück. Bei Immoscout fanden sie es - aber Liebe auf den ersten Blick war es nicht. „Hier ist ja wirklich gar nichts“, waren Janßens erste Worte zu ihrem Mann, als sie vor dem Haus in Niep standen. Dann aber sah sie den Garten, der hinterm Haus direkt an die Kuhlen grenzt. „Da war mir klar: Hier will ich wohnen.“ Der Mietpreis, sagt sie, ist mit 850 Euro kalt sehr fair. Fast 200 Quadratmeter, ein Nebengebäude und den große Garten der ehemaligen Bäckerei nutzt die Familie.
Der erste Winter mitten im Nichts
Mitten im Winter zogen Carolina Janßen und ihr Mann mit zwei Kindern im Teenageralter und der damals zweijährigen Tochter nach Niep. „Es lag Schnee, es gab keine Laternen entlang unserer Straße und es war wirklich dunkel“, erinnert sie sich. „Aber wir hatten nachts den schönsten Sternenhimmel, den es so in der Stadt nie gibt, und wir haben uns sofort wohlgefühlt.“ Zuerst liebten die Kinder ihre neuen großen Zimmer und den Platz für Hauspartys mit ihren Freunden, doch schnell merkten die Jugendlichen auch, dass sie eben nur mit dem Rad oder Mama-Taxi wegkamen. „Das war eine Umstellung für uns alle“, sagt Janßen. Mittlerweile wohnen die beiden Ältesten nicht mehr zuhause.
Die jüngste, mittlerweile fast 13-jährige Tochter, kennt es hingegen nicht anders und ist ein richtiges Landkind. „Sie ist als schon als kleines Kind immer bei den neugeborenen Kälbchen nebenan gewesen, im Sommer fährt sie mit ihren Freundinnen mit dem Kanu über den See“, erzählt Janßen. Man kennt sich in der Nachbarschaft, hilft sich und achtet aufeinander, auch wenn das nächste Haus 400 Meter entfernt liegt. Der antike Schreibtisch, der beim Einzug nicht durch die Tür passte, wurde mit dem Frontlader oben durchs Fenster hineintransportiert. Der Bauer - und gleichzeitig Vermieter - bringt mal Kartoffeln vorbei, im Sommer trifft man sich auf ein Radler am See.
Wikingerabende an den Nieper Kuhlen
Überhaupt der See: Jetzt im Winter hängen die kahlen Äste tief ins Wasser herein, die Sonne dringt durch den Nebel und das Kanu liegt am Ufer der Kuhlen. Rehe, Igel, Eisvögel, Fischreiher, Kormorane und viele andere Tiere zeigen sich hier regelmäßig. „Hier ist es zu jeder Jahreszeit schön, am liebsten mag ich es aber im Sommer und Herbst, wenn wir schwimmen gehen, lange ums Feuer sitzen und aufs Wasser schauen“, sagt die 43-Jährige. Regelmäßig veranstalten Janßen und ihr Mann, der als Industriemechaniker arbeitet, Wikingerabende, zelten dann im Garten und genießen morgens das erste Licht überm See.
Auch Videodrehs fanden in dieser Idylle schon statt. Carolina Janßen ist Veranstaltungstechnikerin, Kamerafrau, Fotografin und Visagistin, arbeitet sowohl selbstständig als auch für die Krefelder SEL-Group. Image- und Karnevalsfilme, Musikvideos, Produktionen fürs Fernsehen und viele weitere Arbeiten zählen zu ihren Aufgaben.
„Wir wohnen so wie andere Urlaub machen“
Kann sie also verstehen, dass derzeit der Trend zur Flucht aus der Stadt raus aufs Land geht, es vielerorts ein Comeback des ländlichen Raums gibt? „Einige Bekannte und Freunde von uns haben diesen Weg ebenfalls gewählt und sind glücklich damit. Wir wohnen so wie andere Urlaub machen.“ Wenn sie jetzt die Verwandtschaft in Mannheim besucht oder für einen ihrer Jobs in den großen Städten unterwegs ist, merke sie schnell, dass sie wieder raus müsse. Zu voll, zu laut, zu wenig Platz. „Man gewöhnt sich schnell an die Weite, die Natur und die Ruhe.“
Die Nachteile? „Es ist alles irre viel Arbeit“, sagt Janßen ehrlich. „Das geht ja den meisten mit großem Grundstück und Haus so, man bleibt immer dran.“ Das nächste Geschäft ist kilometerweit entfernt, ein Auto unumgänglich. Und: „Das Internet ist eine Katastrophe, Glasfaserkabel sind gelegt, aber nicht angeschlossen.“ Carolina Janßen würde trotzdem immer wieder hierher ziehen. „Wenn ich nach einem langen Arbeitstag in der Stadt um die letzte Kurve biege und das Haus sehe, atme ich sofort einmal durch und werde ruhig.“