Kamp-Lintfort. Gymnasiastinnen wenden sich in einem offenen Brief an Schulministerin Gebauer und schildern, warum sie sich von der Politik abgehängt fühlen.

Luna Roth und Hjördis Fischer sind zwei von vielen: Die beiden Kamp-Lintforterinnen stehen kurz vor ihrem Abitur und haben keine Ahnung, wie das wirklich funktionieren soll in diesen Zeiten. Ihren Sorgen verleihen sie Ausdruck in einem offenen, sehr sorgfältig formulierten Brief an Schulministerin Yvonne Gebauer und Ministerpräsident Armin Laschet. Und der beginnt schon mit einem der vielen Widersprüche, mit denen sich Schule in den letzten Monaten auseinandersetzen musste: „Auf der einen Seite konnten Sie, Herr Ministerpräsident, uns kein reguläres Abitur garantieren; auf der anderen Seite halten Sie, Frau Schulministerin, an den Abiturprüfungen fest.“

„Dabei geht es nicht nur um uns“, betonen die jungen Frauen. Im Gespräch mit Freunden und anderen Schülerinnen und Schülern kurz vor dem Abschluss haben sie festgestellt: Viele fühlen sich schlecht vorbereitet auf die „wichtigste Prüfung in unserer Schullaufbahn“. Aber niemand klagte öffentlich. „Wenn’s keiner macht, dann machen wir es“, stand schnell für die beiden Gymnasiastinnen fest.

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Viele Stunden haben die Schülerinnen des Georg-Forster-Gymnasiums in den Brief investiert. „Wir wollten ja nicht nur Probleme ansprechen, sondern auch gut begründen, wo es hakt, und zeigen, wie es besser gehen könnte“, sind sich die beiden einig. Dabei müssen sie keine richtige Bange vor dem Abi haben. Sie bezeichnen sich als „fleißige und gute“ Schülerinnen. Aber da ist ja auch die Sache mit dem Notendurchschnitt, der Eintrittskarte zu den meisten Studienfächern. Wenn Luna Roth sich tatsächlich für Jura entscheidet, sowieso.

Schulalltag macht in diesen Zeiten mürbe

Im Gespräch mit der Redaktion schildern sie ihren Schulalltag, der auf die Dauer so mürbe macht. „Manchmal sitzen wir von 8 bis 13 Uhr am Stück in Videokonferenzen. Da ist man echt am Limit“, berichtet Hjördis Fischer. Denn das klappe mal mehr, mal weniger gut. Die Technik ruckelt, „mal hören wir die Lehrerin nicht, mal sie uns und unsere Fragen nicht, sondern redet einfach weiter“. Nicht selten blieben so von 90 Minuten 45 echte übrig. Luna Roth lebt mit drei Geschwistern im Haushalt, alle im Distanzunterricht. „Dafür ist unser WLan nicht ausgerichtet.“ Da wird so eine Konferenz zur Wackelpartie. Hjördis Fischer muss mit ihrem digital studierenden Bruder daheim um Bits und Bytes ringen. „Aber wenn ich mein Bild weg schalte, um wenigstens den Ton mitzubekommen, kann der Lehrer das als Fehlstunde werten.“ Denn auch am Georg-Forster-Gymnasium gilt wie am Duisburger Landfermann-Gymnasium die nicht ganz unumstrittene Kamerapflicht, die in Duisburg Eltern auf den Plan gerufen hat. Und die Lehrer gäben sich ja Mühe, aber das mit der Technik klappe nicht bei allen gleich gut. Es gebe sogar noch welche, berichten die beiden, die Arbeitsblätter vorbereiten, die in der Schule abgeholt werden müssen. „Und da ist dann Getümmel auf den Fluren“, ist ihre Erfahrung. Das könne ja nicht Sinn der Sache sein, finden sie. Schultage bis 16 oder 17 Uhr würden so eher die Regel als die Ausnahme.

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Den Vergleich mit dem letzten Abi-Jahrgang, der es „ja auch geschafft“ habe, finden die Kamp-Lintforterinnen unpassend. „Die hatten den Stoff schon durch, bevor es ins Distanzlernen ging. Bei uns fehlen ganze zwei Themenfelder, auf die wir uns nicht ausreichend vorbereitet fühlen.“ Was vor allem fehle, sei ein ausreichendes Feedback der Lehrer, die die Flut von Aufgaben nicht alle rechtzeitig korrigieren könnten. Wofür die jungen Frauen Verständnis haben. Problem: „Dann glauben wir, es verstanden zu haben, stimmt aber vielleicht nicht.“ Für die beiden etwa in Mathe ein Thema.

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Der erste große Stress steht schon kurz bevor. Wenn am 15. Februar die Schulen wieder öffnen sollten, folgt schon vier Tage später die erste Vorabi-Klausur. Für Luna und Hjördis nicht kriegsentscheidend, für andere aber vielleicht wohl, wenn es um die Frage geht, ob sie überhaupt Ende April zum Abi antreten dürfen.

Das Abitur muss mehr in den Fokus der Politik

Was sich Luna Roth und Hjördis Fischer von ihrem Brief erhoffen? Dass die Abiturienten bei der Politik mehr in den Fokus rücken, sagen sie. Wenn an Berufskollegs wieder Präsenzunterricht erlaubt werde, warum dann nicht auch an Gymnasien, wenigstens für die Elfer- und Zwölfer-Jahrgänge. Vielleicht zunächst nur in den Abi-Fächern, vielleicht im Wechselunterricht. Schon damit könnte man ihnen manche Sorge nehmen, sagen die Schülerinnen des Georg-Forster-Gymnasiums.

Der offene Brief in ganzer Länge:

Sehr geehrte Frau Schulministerin Gebauer, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet,

wir, Schülerinnen des Abiturjahrganges 2021 vom Georg-Forster-Gymnasium in Kamp-Lintfort stehen im Moment vor der Ungewissheit wie unser Abitur stattfinden soll, da seitens der Politik keine ausreichenden organisatorischen Entscheidungen getroffen werden. Stattdessenwerden widersprüchliche Aussagen über den Verlauf der Abiturprüfungen getätigt. Auf der einen Seite konnten Sie, Herr Ministerpräsident, uns keinen reguläres Abitur garantieren; auf der anderen Seite halten Sie, Frau Schulministerin, an den Abiturprüfungen fest.

Der Distanzunterricht bietet bei Weitem nicht die technischen Möglichkeiten, um den Präsenzunterricht für uns angemessen zu ersetzen, insofern die Server zum Teil überlastet sind und Familien mit geringen Einkommen die technischen Voraussetzungen nicht erfüllenkönnen, um am Distanzunterricht zufriedenstellend teil nehmen zu können. Nicht alle Schulen in Nordrhein-Westfalen können Tablets etc. für diese Familien zur Verfügung stellen, da auch ihnen finanziell der Spielraum fehlt und seit Monaten bestellte Endgeräte nicht eintreffen. Somit besteht nicht nur ein Bildungschancengefälle zwischen den Schulen, sondern auch zwischen den Schüler*innen.

Bis vor kurzem gab es kein offizielles Videokonferenztool, weshalb der Onlineunterricht über Wochen und Monate unnötig erschwert wurde und Schüler*innen sich komplexe Unterrichtsinhalte selbst beibringen mussten. Man kann von dem Lehrer*innen keine zeitgemäße Korrektur unserer bearbeiteten Aufgaben erwarten, weshalb wir Abiturient*innen uns in der misslichen Lage befinden, uns mit nicht vollständig verstandenen Inhalten auf die anstehenden Abiturprüfungen vorbereiten müssen. Zudem existiert das neuvorgestellte Tool „Logineo NRW“ schon seit dem letzten Lockdown, weshalb sich uns die Frage stellt, warum dieses erst jetzt für den offiziellen Gebrauch freigegeben wurde. Die Neuanmeldung dieses Systems stellt ein weiteres Problem dar, insofern sich jede/r einzelne Schüler*in auf dieser Plattform neu registrieren muss, was erneut viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Außerdemmuss das Programm seitens der Lehrer*innen eine Testphase durchlaufen, was wiederum Zeitbeansprucht. Diese Zeit haben wir nicht, weshalb viele Schulen weiterhin auf alternative Programme zurückgreifen müssen.

Ein weiteres Problem sehen wir in der voraussichtlichen Schulöffnung am 15. Februar, da wir vier Tage später unsere erste Vorabiturprüfung im Leistungskurs schreiben sollen, auf welche wir nicht angemessen vorbereitet werden konnten. Daher steigt die Angst und Verunsicherung unter uns Abiturient*innen. Deshalb stellt sich uns die Frage weshalb nicht speziell für die Abiturjahrgänge Konzepte entwickelt werden, damit wir zumindest teilweise den Präsenzunterricht besuchen können. Zum Beispiel könnten nur die Abiturfächer unterrichtet und die Kurse aufgeteilt werden, wodurch ein Wechselunterricht entstünde und sich nicht viele Schüler*innen zur gleichen Zeit in der Schule aufhielten.

Auf der Kultusministerkonferenz am 21. Januar sagten Sie, Frau Gebauer, „Neben einerzeitlichen Verschiebung der Abiturprüfungen und einer Gewinnung von mehr Lernzeit, ist auch ein modifiziertes Auswahlverfahren bei den Prüfungen vorgesehen“. Wir finden es fragwürdig, inwiefern der im Distanzunterricht vermittelte Schulstoff eines halben Jahres innerhalb von neun Tagen nachgeholt und aufgearbeitet werden und wie dieser Aufschub Sicherheit generieren soll. Gestern äußerten Sie sich, Frau Schulministerin, bezüglich des weiteren Vorgehens in Schulen, wobei Sie erneut den Abiturjahrgang vernachlässigten und nur kurz auf ihn eingingen. Deshalb wünschen wir uns, dass das Abitur 2021 in den Fokus der Politik rückt und kurzfristig an verlässlichen Konzepten für unser Abitur gearbeitet wird.

Mit freundlichen Grüßen

Luna Roth und Hjördis Fischer