Moers. Schauspieler Matthias Heße geht die ganz lange Strecke. Zu sehen im Stream. Um 21 und 23.20 Uhr am Freitagabend spielt er aus dem Studio-Fenster.
Ein sanfter Lichtkegel scheint ins Studio des Schlosstheaters (STM). Im Raum stehen zwei Stühle. Um sie herum markieren Klebestreifen den Abstand. Die auf einem Foto festgehaltenen Augen des Dichters Rainer Maria Rilke gucken scheinbar zu. Was gleich passiert, sprengt Grenzen: Schauspieler und Zuschauer kommen sich ganz nah. Die Performance trifft den Zeitgeist – und mitten in die Seele.
Ein Format für die Corona-Zeit
Schauspieler Matthias Heße und STM-Dramaturgin Viola Köster haben ein Format erarbeitet, damit Kultur in außergewöhnlichen Coronavirus-Zeiten weiterlebt. 24 Stunden lang führt Heße die Kurzgeschichte „Das ist unser Manifest“ des Nachkriegsautors Wolfgang Borchert auf – live übertragen auf der Homepage und via facebook.
Die Kurzgeschichte ist Teil von Borcherts Buch „Draußen vor der Tür“. Hinter dem Buch steht eine emotionale Geschichte: Der 1921 in Hamburg geborene Borchert bestand als Zwanzigjähriger seine Schauspielprüfung vor der Reichstheaterkammer. Im selben Jahr wird er zum Kriegsdienst der Wehrmacht eingezogen. Weil Borchert das nationalsozialistische Regime kritisierte, wurde er inhaftiert. 1945 gerät er in französische Gefangenschaft. Er flieht und läuft sechshundert Kilometer nach Hamburg. Nach gescheiterten Versuchen, als Schauspieler zu arbeiten, widmete er sich dem Schreiben. In acht Tagen verfasste der ans Krankenbett gefesselte Borchert sein Buch „Draußen vor der Tür“. 1947 stirbt er im Alter von nur 26 Jahren.
Kriegsheimkehrer Beckmann kann nicht Fuß fassen
Borcherts Buch handelt vom Kriegsheimkehrer Beckmann, dem es nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft
nicht gelingt, sich einzugliedern. Beckmann richtet Verantwortungsbitten an Instanzen, die das Kriegsgräuel zu vergessen scheinen. Am Freitag lag die Kapitulation der Nationalsozialisten und damit das Ende des zweiten Weltkriegs 75 Jahre zurück. Passend zur Jubiläumszahl will Schauspieler Heße das Stück in 24 Stunden 75 Mal aufführen. Ein schauspielerischer Gewaltakt.
Persönlicher Besuch möglich
Zahlreiche Zuschauer verfolgten das Event live auf Facebook und der STM-Homepage. „40 Leute haben sich für einen persönlichen Theaterbesuch eingetragen“, freut sich Cornelia, Frau von Matthias Heße. Am Eingang passt sie auf, dass jeder eine Maske trägt, sich die Hände desinfiziert und Kontaktdaten hinterlässt, damit Corona-Ansteckungen notfalls nachverfolgt werden können.
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Jeder Zuschauer wird alleine hineingeführt. Heße schlüpft in seine grandios verkörperte Rolle des Kriegsheimkehrers: „Helm ab – Wir haben verloren“, ruft er, schnappt sich einen Stuhl und blickt dem Zuschauer in die Augen. Sodann erzählt er von brausenden Panzern, über das nicht zu messende „Gute“, hektischen Jazz und das Lila, welches als blaubeschneite Totenhaut oder als Nachthimmel auftaucht. „Doch: Wir wollen in dieser wahnwitzigen Welt noch wieder, immer wieder leben“, beendet Heße eine der 75 einzigartigen Performances, die zeigen: Kompromisslose Statements für ein Miteinander ohne Hass bleiben wichtig. Und: Schauspielerei kann verdammte Knochenarbeit sein.