Kamp-Lintfort. Sandra Schulz vom Allgemeinen Sozialen Dienst Kamp-Lintfort erklärt Abläufe. Sie weiß, wie Erzieher auf schwierige Gespräche vorbereitet werden.
Alles richtig gemacht, hatte Dezernent Christoph Müllmann (NRZ vom 14. November) das Jugendamt im Umgang mit dem Missbrauchsfall gelobt, in dem ein aus Kamp-Lintfort stammender Zeitsoldat sich an Kleinkindern vergangen und davon Videomaterial zur Verfügung haben soll. Aber was passiert eigentlich genau, wenn sich ein Missbrauchsverdacht auftut? Das haben wir Sandra Schulz vom Allgemeinen Sozialen Dienst der Stadt Kamp-Lintfort gefragt.
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Wie oft passiert es in Kamp-Lintfort im Jahr, dass Erzieher oder Tageseltern dem Jugendamt einen Verdacht auf sexuellen Missbrauch melden?
Schulz: Bei dieser Frage muss man zwei Dinge unterscheiden. Alle Erzieherinnen und Erzieher und auch Tagespflegepersonen haben die Möglichkeit, sich gemäß § 8a SGB VIII von einer erfahrenen Fachkraft beraten zu lassen, wenn sie sich unsicher sind, ob eine mögliche Kindeswohlgefährdung vorliegt. Diese Beratung wird im Bereich der städtischen Kitas von zwei Mitarbeiterinnen der Grafschafter Diakonie durchgeführt und auch von mir selber angeboten. Diese Beratung sollte immer einer Meldung beim Jugendamt vorgeschaltet werden. Einzige Ausnahme ist die Akutsituation.
In dieser Beratung kann durchaus herauskommen, dass eine mögliche Kindeswohlgefährdung vorliegt, diese aber mit einem eigenen Schutzkonzept zunächst abgewendet werden kann. Sollte dies nicht möglich sein, erfolgt eine Meldung in mündlicher und schriftlicher Form an das Jugendamt. In 2019 gab es eine Meldung durch eine Tagespflegeperson und drei Meldungen durch Kindertagesstätten. Außerdem gab es vier Beratungen.
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Wie kann das Betreuungspersonal Anzeichen auf einen möglichen Missbrauch feststellen?
Die Mitarbeiter der städtischen Kitas erhalten durch das Jugendamt eine Fortbildung im Bereich Kinderschutz, bei dem auch ein Blickpunkt auf den Bereich sexueller Missbrauch gerichtet ist. Außerdem werden sie für „schwierige Gespräche“ geschult, das heißt, ihnen werden Instrumente an die Hand gegeben, Gespräche mit Eltern zu führen, die Kinderschutzthemen tangieren – hier natürlich auch den Bereich sexueller Missbrauch. Wichtig ist, dass alle Mitarbeiter über die Arbeitsabläufe des Jugendamtes informiert werden, damit eigene Grenzen erkannt werden und ein Vertrauen zur Überleitung der Familie zum Jugendamt gegeben ist.
Gibt es Angebote darüber hinaus?
Ja, es gibt in Kamp-Lintfort den Arbeitskreis gegen sexuellen Missbrauch, der von der Awo geleitet wird. An diesem Arbeitskreis nehmen auch Mitarbeiter der Kindertagesstätten und das Jugendamt teil. Hier besteht die Möglichkeit, anonyme Fallbesprechungen durchzuführen oder auch Materialien für Präventionsprojekte auszuleihen. Das Jugendamt plant für 2020 eine spezielle Fortbildungsreihe zum Thema sexueller Missbrauch.
Was passiert als erstes, wenn ein Verdacht gemeldet wird?
Geht eine Meldung ein, greift unser standardisiertes Verfahren im Bereich Kinderschutz. Zunächst wird die Meldung im sogenannten „roten Bogen“ von einer Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes aufgenommen. Diese nimmt umgehend mit der Abteilungsleitung Kontakt auf und es erfolgt mit mindestens einer weiteren Kollegin eine erste Absprache zum weiteren Vorgehen. Ein Standard ist, dass noch am gleichen Tag mit dem Kind und den Eltern ein Gespräch geführt wird und das Kind in Augenschein genommen wird. Ein Hausbesuch ist ebenfalls verpflichtend.
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Bei einer Meldung im Bereich sexueller Missbrauch ist eine verbindliche Vorgehensweise, dass zwei Mitarbeiter in der Einrichtung ein Gespräch mit dem Kind führen ohne Anwesenheit eines Elternteiles. Bei diesem Gespräch ist immer auch eine Erzieherin mit dabei. Nach diesem Gespräch erfolgt die sogenannte Gefährdungseinschätzung. Sollte sich der Verdacht auf sexuellen Missbrauch erhärtet haben, wird das Kind umgehend in der Kinderklinik in Geldern vorgestellt. Dort gibt es eine Fachabteilung Kindergynäkologie, die sich auf die Diagnostik bei sexuellem Missbrauch spezialisiert hat. Nach der Vorstellung in der Kinderklinik erfolgt eine weitere Gefährdungseinschätzung, in der die weiteren Schritte besprochen werden. Hier besteht auch die Möglichkeit, den Verein Wildwasser aus Duisburg mit einzubeziehen. Sollte der Verdacht durch die Kinderklinik bestätigt werden, wird entweder durch das Jugendamt oder die Eltern eine Strafanzeige bei der Polizei gestellt.
Wird in Kitas oder Tagesgruppen zum Thema Missbrauch auch präventiv mit den Kindern gearbeitet?
Der Arbeitskreis gegen sexuellen Missbrauch hat eine Wanderausstellung zur Prävention im Bereich sexuellen Missbrauchs entworfen, diese kann von den Kindertagesstätten ausgeliehen werden. Hier gibt es mehrere Stationen, bei denen Kinder spielerisch „Nein- Sagen“ lernen oder ausprobieren können, was ihnen unangenehm ist. Was einzelne Kitas außerdem anbieten, müsste speziell abgefragt werden.
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Aus Ihrer Erfahrung: Werden heute mehr Missbrauchsfälle aufgedeckt als vor zehn Jahren?
Insgesamt ist der Blick auf den Bereich sexueller Missbrauch offener geworden, trotzdem schlägt sich dies nicht in Meldungen nieder. Das liegt meines Erachtens daran, dass viele Pädagogen, die auch mit möglichen Tätern Kontakt haben, dies für unvorstellbar halten und sich auch sehr schwer tun, diesem Verdacht nachzugehen. In unserer Schulung „Schwierige Gespräche“ wird immer wieder erwähnt, dass man sich eher zutraut körperliche Gewalt anzusprechen, als einen Missbrauchsverdacht. Hier bekommen die Erzieher methodische Grundlagen vermittelt, um auch in diesem Bereich sicherer auftreten zu können.