Kreis Wesel. Eine Familie „auf Abruf“ schenkt ihren zwei kleinen traumatisierten Pflegekindern Geborgenheit. Täglich können die Jungs ihnen abgenommen werden.
Leon hat sich vollgematscht, begeistert kräht der Knirps durch den großen Garten, rempelt mit seinen noch unsicheren Schritten den riesigen Hund an. Der macht gutmütig Platz. Sein Bruder Luca erklärt derweil seinem achtjährigen Bruder irgendetwas ernsthaft in seiner Kindersprache.
Sommerliche Familienidylle, aber: Eine „richtige“ Familie ist das nicht. Die Kleinen sind Pflegekinder, das Jugendamt hat die Jungs den hoffnungslos überforderten, alkoholkranken Eltern entzogen und sie zu Pflegeeltern gegeben. Auf Zeit, oder für immer – so genau weiß das niemand. Klar ist, dass die leiblichen Eltern die Kinder suchen und damit gedroht haben, sie zu entführen, weshalb wir ihre Geschichte anonym erzählen, alle Namen geändert haben und ihren Wohnort im Kreis Wesel nicht nennen.
Warum tut sich jemand das an? Sabine und ihr Mann Ben sind Mitte 30 und haben die Kinder aufgenommen, ohne Wenn und Aber. „Ich habe mir das schon vor Jahren in den Kopf gesetzt“, sagt Sabine, „wir haben viel diskutiert.“ Getraut haben die beiden sich lange nicht. Ihr gemeinsamer Sohn (8) dagegen sagt locker: „Ich habe mir das gewünscht.“ Kleine Geschwister, der große Bruder sein, das genießt er sichtlich. Ob Mädchen oder Junge, das war ihm egal. „Ich spiele gern mit kleinen Kindern“, sagt er. Dass es gleich zwei werden – damit hat niemand gerechnet.
Jetzt ist nichts mehr, wie es vorher war
Das Paar hat sich auf ein Pflegekind eingestellt, Sabine bei einem freien Träger eine intensive Schulung durchlaufen, zehn Samstage à sechs Stunden. Bedingung war das nicht, aber: „Ich wollte vorbereitet sein, meine Rechte und Pflichten genau kennen“, sagt sie. Und erfahren, welche Schwierigkeiten traumatisierte Kinder mitbringen können, lernen, damit umzugehen. Dann kam der Anruf. Zwei Jungs! „Ich habe ,Ja’ gesagt, aufgelegt, und dann: ,Au Backe’!“ Die junge Frau lacht. Das ist jetzt ein paar Wochen her und nichts ist mehr wie es war. „Luca, musst du dich auf deinen Bruder setzen?“, wirft sie während des Gesprächs nebenher ein, die Kleinen immer im Blick.
Als die Kinder kamen, hatten sie viel zu kleine Klamotten dabei, ein zweites Bett musste her, ein zweiter Hochstuhl, ein anderer Kinderwagen, das Familienauto war zu klein. Wer annimmt, dass sie wie eigener Nachwuchs behandelt werden können, irrt: Die Jungs haben eine gesetzlichen Vormund. „Wir müssen fragen, wenn wir sie mit in den Urlaub nehmen wollen“, sagt Sabine. „Wir können Kindergarten und Schule nicht frei wählen, sorgeberechtigt ist der Vormund und er hat auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht.“ Das bringt Einschränkungen mit sich, das und die Kontrollen, die hin und wieder anstehen, nimmt das Paar gelassen hin.
Herausfordernder waren die Kinder, es gab widersprüchliche Angaben über ihre Vorgeschichte. „Alkohol und Vernachlässigung, auch Gewalttätigkeiten stehen im Raum“, sagt Sabine. Ihr Mann Ben erinnert sich: „Die ersten Tage waren hart. Wir wussten nichts über die Kinder.“ Inzwischen hat sich vieles eingespielt, Luca und Leon nennen ihre Pflegeeltern Mama und Papa. Ist das gut, wo die Zukunft so unklar ist? „Es gibt eine Bauchmama und eine Herzensmama“, sagt Sabine.
Die Zukunft ist ungewiss, die leiblichen Eltern könnten die Kinder zurück bekommen
Weil die Kinder noch bis zu zwei Jahre in Bereitschaft bei ihnen sind, ist die Zukunft ungewiss. Die Pflegeeltern, so die Vorgabe, sollen ihre Grundbedürfnisse erfüllen, mehr nicht. Aber sind Geborgenheit und Sicherheit nicht kindliche Grundbedürfnisse schlechthin?
Gelassenheit müssen sie lernen, sagt Sabine. Bauchschmerzen hat sie trotzdem mit Blick auf die Zukunft ihrer Schützlinge. Sie haben nachts gebrüllt und Alpträume gehabt, „der Arzt ist zufrieden, aber es ist unklar wie sich FASD, die Fetale Alkoholspektrumstörung, in ihrem späteren Leben auswirken wird“. Diese Kinder sind quasi mit Entzugserscheinungen auf die Welt gekommen. Klar ist schon jetzt: Obwohl ihren Eltern das Sorgerecht entzogen ist, werden sie die Jungs nach einer Sperrfrist sehen dürfen.
Die Pflegeeltern sorgen sich: Was wird das mit den Kinderseelen machen? „Das Recht der leiblichen Eltern steht immer noch über dem Wohl der Kinder“, kritisiert Sabine. „Sie können jedes Jahr erneut darum kämpfen, die Kinder zurück zu bekommen. Dieser Zirkus kann sich jahrelang hinziehen.“
Ben und Sabine behandeln ihre Pflegekinder wie eigene, obwohl sie ihnen quasi täglich wieder weggenommen werden können, „man gibt ihnen alles“. Ein 24-Stunden-Job, „reich wird man dabei nicht“. Aber das ist auch nicht der Sinn des Ganzen. Sabine wünschte sich nur etwas Absicherung fürs Alter, denn voll erwerbstätig kann sie jetzt nicht sein, die Kleinen fordern sie.
Um sozialversichert zu sein, arbeitet sie in Teilzeit – frühmorgens oder am Abend, wenn Ben auf die Kinder aufpassen kann. Und wenn sie plötzlich weg wären? „Darauf müssen wir eingestellt sein“, sagt die Pflegemutter trocken.