Kreis Kleve. Wie realistisch ist ein Regierungswechsel bei der Wahl in den Niederlanden? Ein Interview mit Sozialdemokratin Esther-Mirjam Sent aus Nimwegen.
Die niederländischen Sozialdemokraten haben in den vergangenen Jahren ordentlich Federn lassen müssen. 2017 waren sie mit knapp 25 Prozent noch die zweitstärkste Partei in den Niederlanden, mittlerweile ist die PvdA, die Partij van de Arbeid, nur noch eine kleine Gruppierung: In den Umfragen rangiert sie bei 5,7 Prozent. Warum ist das so? Warum profitieren die Sozialdemokraten nicht von der Abkehr der neo-liberalen Politik? Esther-Mirjam Sent hat für die Partij van de Arbeid (PvdA) federführend das aktuelle Wahlprogramm geschrieben und einen breiten Prozess der Parteierneuerung geleitet. Ein Interview über die Neuausrichtung der niederländischen Sozialdemokratie.
Ihr Wahlprogramm umfasst diesmal sehr linke und zugespitzte Standpunkte. Unter anderem fordern Sie einen Mindestlohn in Höhe von 14 Euro. Ist das das wichtigste Thema: Arbeit, Arbeit, Arbeit?
Esther-Mirjam Sent: Ich würde sagen, dass wir insgesamt fünf wichtige Themen haben. Arbeit ist ein wichtiger Aspekt, ja: Wir wollen einen höheren Mindestlohn und eine höhere Rente. Zudem ist Bildung wichtig. Hier wollen wir, dass die Kinder länger zusammen in die Grundschule gehen und dass die Kinderbetreuung gratis wird. Natürlich steht das Thema Gesundheit auch ganz vorne: Wir wollen, dass die Gesundheitsleistungen nicht weiter konzentriert werden, die eigenen Risikoaufschläge in den Krankenversicherungen müssen verschwinden und die Beiträge zur Krankenversicherung sollen gesenkt werden. Das Thema Wohnen ist unser viertes Thema: Es gibt einen enormen Wohnungsmangel und die Regierung lässt bei diesem Thema eine Regie vermissen. Und zum Schluss kümmern wir uns um das Thema Nachhaltigkeit.
Wenn ich zusammenfassen darf: Sie wollen den Neo-Liberalismus der vergangenen Jahre wieder zurückdrängen.
Sent: Ja. Wir benötigen einen anderen Kurs. Die Wirtschaft darf nicht nur den Reichsten in der Gesellschaft dienen, alle in der Gesellschaft müssen vom Wirtschaftswachstum profitieren. Das ist für uns eine Frage der Gerechtigkeit und des Anstands.
Sie wollen zurück zu ihren Kernthemen: Politik für Menschen mit einem kleinen Portemonnaie.
Sent: Nicht nur für Menschen mit einem kleinen Geldbeutel. Ich selbst habe ein etwas dickeres Portemonnaie, aber ich finde es auch nicht so toll, in einer Welt zu leben, in der es so große soziale Unterschiede gibt und große Unternehmen immer noch mehr Geld verdienen und immer weniger für die Gesellschaft leisten.
Sie fordern 14 Euro Mindestlohn. In Deutschland wollen die Sozialdemokraten zwölf Euro durchsetzen. Die beiden Volkswirtschaften ähneln sich in ihrer Leistungskraft sehr. Muss man da so etwas auf europäischer Ebene nicht besser absprechen?
Sent: Es gibt europäische Versuche, um die Mindestlöhne dichter zusammenzubringen. Das finden wir auch sehr gut, denn Europa ist nicht nur eine finanzielle Union, sondern auch eine soziale Union. Aber es gibt auch Länder, die haben gar keinen Mindestlohn. Die niederländischen Gewerkschaften fordern seit einiger Zeit die 14 Euro. Und auch wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass ein höherer Mindestlohn besser ist für die Wirtschaft. Traditionell gilt ja die Maxime, dass man Arbeit so günstig wie möglich machen sollte. Aber die Wirtschaftswissenschaften zeigen uns, dass ein höhrer Mindestlohn dazu führt, dass Menschen stärker motiviert sind, dass sie sich geschätzt fühlen und sich mehr einsetzen. Das kommt wieder dem Wirtschaftswachstum zu Gute.
Heute liegt der Mindestlohn bei 10,80 Euro. Ihre Forderungen beinhalten eine deutliche Steigerung.
Sent: Ja, das ist eine starke Erhöhung, die wir schrittweise einführen wollen. Natürlich sehen wir auch die Entwicklungen, dass Unternehmer sich mit allerlei Scheinkonstruktionen des Mindestlohns entziehen wollen. Aber wir wollen auch diese Leiharbeiter- und Solo-Selbstständigen-Konstruktionen verändern. Künftig sollen nur noch einige Standard-Verträge möglich sein.
Zur Person
Esther-Mirjam Sent ist seit 2011 Mitglied der Ersten Kammer der Generalstaaten in Den Haag - quasi der Senat der Niederlande. Hier sitzt sie dem Ausschuss für Arbeit und Soziales vor. Formell prüft die Erste Kammer die Gesetzesentwürfe der Zweiten Kammer, dem niederländischen Parlament.
Sent ist zudem Wirtschaftswissenschaftlerin an der Radboud-Universität in Nimwegen. Hier lehrt sie Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik und sie beschäftigt sich vor allem mit experimenteller Wirtschaftswissenschaft, mit Verhaltensökonomie und Genderökonomie.
Für die niederländischen Sozialdemokraten hat sie die Kommission zur Erstellung des Wahlprogramms geleitet. In dieser Kommission befanden sich zehn Personen mit einem breiten gesellschaftlichen Erfahrungsschatz. Sent hat zum ersten Mal an der Erarbeitung so eines Programms gearbeitet.
Die 54-Jährige möchte „noch nicht“ Mitglied des niederländischen Parlaments werden. „Ich habe noch zwei Amtsjahre in der Ersten Kammer und wer weiß, was ich danach mache“, sagte sie im Gespräch. „Diese Frage lasse ich noch offen.“
Die Kinderbetreuung in den Niederlanden ist sehr teuer und kompliziert. Warum lässt man die Eltern erst teuer bezahlen und erstattet ihnen anschließend über die Steuer weitgehend die Beiträge? Nicht zuletzt ist die Regierung wegen dieser Konstruktion zurückgetreten. Also, warum so umständlich?
Sent: Tja, dass haben wir uns auch gefragt. Und deshalb wollen wir das auch sehr viel einfacher gestalten: Wir wollen eine kostenlose Kinderbetreuung. Punkt. Zudem wollen wir, dass Kinder in der Kita auch eine gewisse Form des schulischen Unterrichts erhalten. Denn wir merken, dass Kinder, die mit vier Jahren eingeschult werden, mitunter deutliche Defizite haben, weil sich bereits in den ersten Lebensjahren Unterschiede in der Kinderförderung offenbaren. Wir wollen ein gerechteres System und für jedes Kind die gleichen Startchancen in der Schule.
Heute ist die Kinderbetreuung in den Niederlanden privat organisiert. Unternehmen führen die Kindertagesstätten und die wollen Gewinne machen. In Deutschland bieten das zum überwiegenden Teil die Kommunen und soziale Träger an. Ist das ein Modell für die Niederlande?
Sent: Diesen Schritt haben wir noch nicht vollzogen. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass dies die nächste, logische Entwicklung ist: Dass die Kindertagespflege durch die Kommunen übernommen wird. Wir hatten so ein System in der Kleinkindbetreuung (Peuterspeelzalen), das lief auch ganz gut. Jetzt sehen wir aber, dass die Kommunen mehr Geld für ihre Aufgaben erhalten müssten. Leider ist das Gegenteil der Fall: Bei den Kommunen wird immer mehr gespart.
Auch der Immobilienmarkt wurde stark privatisiert in den vergangenen Jahren. Das ist heute auch ein Problem.
Sent: Ja, die bestehenden Immobilien-Genossenschaften wurden belastet mit einer Vermieter-Gebühr - und die wollen wir wieder abschaffen. Wir wollen eine viel stärkere Zusammenarbeit zwischen privaten und kommunalen Unternehmen, um wieder mehr Wohnungen zu bauen. Der Staat muss hier die Regie führen, denn die Zahl der bezahlbaren Wohnungen lässt dermaßen zu wünschen übrig, dass sich dies jetzt schnell ändern muss. Das können wir nicht weiter dem Markt alleine überlassen.
Aber die Wohnungssituation lässt sich in den Niederlanden auch nicht so eins-zwei-drei verbessern. Die Stickstoffdebatte zeigt: Die Bauindustrie trägt erheblich zum Umweltproblem bei. Und die Gerichte haben bereits mehrere Neubauvorhaben aus Umweltschutzgründen untersagt.
Sent: Auch für die Stickstoffproblematik haben wir eine ambitionierte Lösung: Wir müssen mutige Entscheidungen treffen. Beschlüsse, die die Landwirte treffen werden. Die wir aber kompensieren wollen.
Wenn Sie die Frage beantworten müssten, welche Projekte vor dem Hintergrund der Stickstoffproblematik Priorität genießen, wie würde ihre Liste aussehen? Steht dann der Wohnungsbau ganz oben oder der Verkehr?
Sent: Es bleibt ein kompliziertes Puzzlespiel. Aber wir wollen an mehreren Stellen ansetzen, um Stickstoff künftig zu vermeiden: Etwa beim öffentlichen Personennahverkehr. Zudem wollen wir die großen Umweltsündern zur Verantwortung ziehen. Alles hängt mit allem zusammen.
Die Niederlande sind das Steuerparadies Europas. In Arnheim befinden sich Hunderte von Briefkastenfirmen, um hier Steuern zu sparen. Was sagen die Sozialdemokraten dazu?
Sent: Ganz klar ist, dass die Dividendensteuer angehoben werden muss. Wir müssen uns stärker an europäischen Zielen orientieren und dürfen nicht weiter das Steuerdumping forcieren. Wir wissen heute, dass Unternehmen sich dort ansiedeln, wo es auch einen starken, öffentlichen Sektor gibt mit einem guten Bildungssystem, mit einem guten ÖPNV, einer guten öffentlichen Sicherheit und einem guten Rechtssystem. Das Steuerdumping hingegen müssen wir beenden. Das ist auch wirtschaftlich nicht vernünftig.
Mit welchen Parteien wollen sie das durchsetzen?
Sent: Unsere natürlichen Partner sind linke Parteien: GroenLinks und die Sozialistische Partei (SP). Vielleicht noch die linksliberale Partei D66. Die Christdemokraten haben sich stark ins rechte Spektrum entwickelt. Mit ihnen werden die Gespräche schwieriger.
Jesse Klaver von GroenLinks hat eine linke Listenverbindung vorgeschlagen. Sie wollten nicht. Warum?
Sent: Nun, Jesse Klaver will auch D66 in diese Verbindung aufnehmen. Eine Partei, die den neo-liberalen Kurs der Rutte-Regierungen unterstützt hat. Dagegen wehren wir uns. Und nicht zuletzt: Im Wahlkampf sollten die Wähler die Möglichkeit haben, unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Standpunkten zu wählen. Bei einer Listenverbindung muss man Kompromisse eingehen.
Ist die PvdA mittlerweile zu klein geworden, um für die Wähler noch attraktiv zu sein? Warum sollte man für eine Zwergenpartei stimmen, die es vermutlich nicht in die Regierung schafft? Wenn Sie eine Listenverbindung eingehen, würde man den Wählern eine Machtoption an die Hand geben.
Sent: Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Die Politikwissenschaft sagt, dass eine Blockformung dazu führen kann, dass man mehr Stimmen erhält, ja. Aber andererseits muss man als Block auch Kompromisse eingehen, sodass die einzelnen Parteien ihre Standpunkte nicht so klar rüberbringen können. Das kann wiederum zu Stimmenverlusten führen. Also, diese Frage ist noch nicht ganz eindeutig geklärt.
Die niederländische PvdA hat in den vergangenen Jahren viel Kritik einstecken müssen. Vor allem auch weil man den neo-liberalen Kurs unter Wim Kok eingeleitet hat. Wie glaubwürdig ist die PvdA?
Sent: Ich denke, dass diese Entwicklung nicht mit Kok eingeleitet wurde. Uns wird heute vorgeworfen, dass wir 2012 zu viel Kompromisse mit der VVD von Mark Rutte eingegangen sind. Damals befanden wir uns in einer Krisensituation und die PvdA wollte Verantwortung für das Land übernehmen. Der Wähler jedoch fühlte sich betrogen. Schlecht war damals auch, dass der Fraktionsvorsitzende im Parlament, Diederick Samson, das Regierungsprogramm verhandelt hat. So konnte er im Parlament nur wenig Einspruch einlegen. Dies ist auch der Grund, warum er das Handtuch geworfen hat.
Sind die Sozialdemokraten in diesem Wahlkampf zu lieb? Warum greifen Sie den Premierminister nicht stärker an?
Sent: Dieser Wahlkampf ist unglaublich kompliziert. Rutte übernimmt die Regie in der Coronakrise und daher sind die anderen Parteien in dieser Frage auch zurückhaltend. Wenn Rutte in seiner Glaubwürdigkeit angetastet wird, was bedeutet das dann für die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen, die dringend notwendig sind? Das stört mich wirklich an diesem Wahlkampf. Diesmal geht es fast ausschließlich um das Thema Corona, aber eigentlich müssten wir uns über die Zeit nach Corona unterhalten. Das Timing der Wahlen hätte für Rutte nicht besser sein können.
Wer wird Ministerpräsident?
Sent (lacht): Lilianne Ploumen natürlich.