Kreis Kleve. Der Rhein führt derzeit Hochwasser, die Pegel steigen noch. Richtig dramatisch war die Situation am Niederrhein aber im Jahr 1995. Ein Rückblick.
Im Februar 2021 führt der Rhein mal wieder Hochwasser, auch der Niederrhein ist betroffen. Auch wenn die hohen Pegelstände noch einige Tage anhalten sollen, wird die Situation aller Vorraussicht nach nicht gefährlich. Das war vor 26 Jahren ganz anders. Damals wurde der Wasserstand Anfang Februar beinahe zur Naturkatastrophe, die Menschen und Tiere gleichermaßen bedrohte. Viele stellten sich nicht mehr die Frage: „Halten die Deiche?“ sondern „Wann brechen die Deiche?“ Der Fluss hatte den höchst bedrohlichen (Emmericher) Pegelstand von 9,84 Metern erreicht. Heute wissen wir: Die Deiche hielten. Das wussten die Niederrheiner damals nicht.
Die Geschichten rund ums Hochwasser 1995 könnten Bücher füllen. Grund genug für die NRZ, um sich mit Zeitzeugen zu unterhalten und das Ereignis noch einmal Revue passieren zu lassen. Jenes Ereignis, dass den Emmericher Pegel auf den bedrohlichen Stand von 9,84 trieb. Beim extremen Hochwasser 1926 soll es lediglich ein Zentimeter weniger gewesen sein. Besonders bedrohlich stellte sich die Hochwasserlage diesseits des Rheins in Bimmen, Keeken, Schenkenschanz, Düffelward, Rindern, Wardhausen und Griethausen dar.
Hochwasser im Kreis Kleve: Der Sandsack-Wettkampf war ausgebrochen
Und am allerschlimmsten im Deichvorland bei Salmorth. Genau dort, wo der Vorsitzende der Kreisbauernschaft Kleve, Josef Peters, seinen Hof hat. Und er erinnert sich nur allzu gut an die letzten Tage im Januar 1995. „Das war eine Katastrophe. In einigen Orten schien der Wettkampf ausgebrochen zu sein: Wer hat mehr Sandsäcke vor der Tür? Dabei hätten die gar nix genutzt, wenn die Deiche nicht gehalten hätten. In Mehr wäre damals gerade noch der Kirchturm zu sehen gewesen…. Aber die Deiche haben ja gehalten, was uns im Deichvorland auch nix nutzte.“
Bis zu einem Pegelstand von 7,20 Meter kamen früher und kommen auch heute die Salmorther über die Griethausener Brücke in sicherere Gefilde, wenn das Wasser sie bedroht. Und die Schänzer hatten (und haben sie wieder) ihre Fähre – auch wenn die zur Evakuierung nicht ausreicht, damals wie heute nicht.
Das Rhein-Wasser hörte nicht auf zu steigen
„Aber wir und das ganze Vieh auf Salmorth…. wir wussten damals nicht ob der Pegel steigt oder fällt… und er stieg jeden Tag“, erinnert sich Peters. Schnell war der Moment gekommen, da war es für eine Evakuierung auf dem Landweg zu spät. Und im Stall standen 240 Rinder, Kälber, Milchkühe. „Wir hatten getan, was wir immer tun, wenn Hochwasser kommt: Kühlschränke und Futterkisten voll packen. Aber das Wasser hörte nicht auf zu steigen.“
Schließlich besuchte Manfred Palmen, der damalige Klever Stadtdirektor, Peters Hof und plante mit dem THW eine Rettung übers Wasser. Aber die Boote waren viel zu klein. „Palmen hatte gute Kontakte zur Bundeswehr und schaffte es schließlich die Emmericher Pioniere mit ihren großen Pontonbooten zu bekommen“, ist Peters noch heute erleichtert. Am 29. Januar wurde evakuiert. „Das war eine Hektik, ein Chaos, eine Aufregung. Und der letzte Schlepper mit acht Tieren rutschte vom Boot ab und fiel ins Wasser.“
Zwei Kühe starben bei der Evakuierung – sie ertranken
Zwei Kühe ertranken, die anderen wurden gerettet und in Ställe in Keeken, Brienen, Emmericher Eyland verteilt. Dann mussten sie erneut evakuiert werden, da der Kreis Kleve Katastrophenalarm auslöste und die Gebiete ebenfalls evakuiert werden mussten. Ein lokaler Nachrichtensender hatte gemeldet, dass die Deichsprengung in den Niederlanden unmittelbar bevorstünde, um dort die Hochwasserlage zu entschärfen.
Peters: „Die hatten hier bei uns dann auch mitgekriegt, dass die Holländer 250.000 Leute evakuierten - die benahmen sich ja, als sei der Krieg ausgebrochen – und haben gedacht: Jetzt müssen alle raus aus den Niederungen. Wir haben vier Tage und Nächte durch gearbeitet und nicht geschlafen. Im Nachhinein ist es ja gut ausgegangen, nix wurde gesprengt. Auch wenn unser Hof viel abbekommen hat. In der Bude bei uns stand das Wasser einen Meter hoch. Unser wirtschaftlicher Schaden lag bei 200.000 D-Mark, den wir auch selbst tragen mussten – Versicherungen gegen Elementarschäden gab’s damals noch nicht.“
Einige Bauern harrten mit ihrem Vieh in den Stallungen aus
Nicht nur Bauer Josef Peters, dessen Tiere aus dem Deichvorland bei Salmorth lange dem Wasser trotzten, bangte um das liebe Vieh. Als die Fluten immer höher stiegen und die Tiere schon bis zum Bauch im Wasser standen, begann der Exodus der Vierbeiner von den meisten Höfen in den Niederungen. Aber auf einigen Betrieben harrten die Bauern aus und blieben mit ihrem Vieh in den heimischen Stallungen.
„Im Stall meines Vaters, der seinen Hof direkt am Eingang von Schenkenschanz hatte, lagen die Kälber auf Sandsäcken“, erinnert sich Marlis Timpe noch gut an die aufregende Zeit im Winter 1995. „Mit 3 oder 4 älteren Frauen, die für die Männer gekocht haben, und einigen Schänzern und Feuerwehrleuten hat mein Vater die Stellung auf der Schanz gehalten.“ Die meisten aber folgten dem Evakuierungsruf und wurden (mitsamt ihren Tieren) mit großen Fähren und Hilfe des THW und der Emmericher Pioniere nach Düffelward über gesetzt.
Hochwasser in Schenkenschanz: Riesiger Presseandrang
Der Presseandrang war riesig, ein Sender wollte einen Sendemast neben dem Fähranleger errichten. „Aber da hat Palmen, Kleves Stadtdirektor, ein Machtwort gesprochen“, erinnert sich auch der Löschgruppenführer Udo van Brakel aus Düffelward. „Von da an durfte keiner mehr übersetzen, der nicht Schänzer oder Helfer war.“ Die Presse nervte viele. Es soll ein Boulevardblatt gegeben haben, das ein paar Schänzer später zu einer 2. Evakuierung überredet hat, um sie stilvoll in Szene zu setzen.
Im Zuge des Hochwassers wurde auch der alte Querdamm bei Zyfflich von 1926 reaktiviert. Er war im Krieg gesprengt worden. Aber 1995 erinnerte sich der Deichverband an ihn und nutzte ihn, um im eventuellen Überflutungsfall aus Richtung der Niederlande den Untergang der Dörfer auf deutscher Seite zumindest zu verlangsamen. „Zeitgewinn war damals das Stichwort“, erinnert sich auch im Gespräch mit der NRZ der stellvertretende Deichgräf der Deichschau Rindern, Josef van de Sand.
Erinnerung an 1995: Die Deiche waren fest
Er hatte 1995 fest daran geglaubt, dass die Deiche im Bereich der Deichschau Rindern halten würden. „Die waren fest!“ Das waren sie ja auch. Heute sind die Deiche fast alle aufwändig saniert und/oder verlegt, befestigt und erhöht worden.
Gerade auch die Mitglieder der Deichverbände und hier die Mitglieder der einzelnen Deichschauen in Rindern, Düffelward und Kranenburg fanden während des Hochwassers 1995 kaum mehr Schlaf. Einer davon war eben auch der Rinderner Josef van de Sand (74): „Wir haben alle eine Woche bis zum 1. Februar nur gearbeitet. Meine Aufgabe bestand z.B. auch darin, den Deichfuß abzulaufen und nach Qualmwasser Ausschau zu halten. Meine Schicht: jede Nacht von 3 bis 5 Uhr. Das haben wir alle gemacht und zwar alle zwei Stunden. Mich haben meine Söhne Hendrik und Klaus, die damals Teenager waren, begleitet.“
Auch in Rindern haben alle ihre Häuser bestmöglich mit Sandsäcken geschützt, Wertsachen in obere Etagen getragen und gehofft, dass die Deiche halten. Es soll einen Rinderner gegeben haben, der eine „Probeflutung“ durch geführt hat, um zu sehen, wie gut die Sandsackbarriere hält. „Aber ich war immer sicher: unser Deich hält!“, verrät van de Sand, was seine Ehefrau Louise nur bestätigen kann.
Die Männer kontrollierten die Deiche
Während die Männer Sandsäcke schleppten, Deiche kontrollierten und Nachbarn halfen, hat sie die „Jungs“ mit Essen versorgt. Van de Sand: „Meine Brüder hatten Höfe mit Milchkühen in Niel. Der eine hat sich evakuieren lassen, der andere hielt aus. Wir haben auch beim Melken geholfen. Es war eine schwere Situation für Mensch und Tier.“
Der Vorsitzende des Heimatvereins Arenacum Rindern, Josef Gietemann, ist auch ein Zeitzeuge, der sich in erster Linie an die „total überfüllte Keekener Straße“ erinnert. „Da war heftig viel los, weil ja der ganze Oypolder evakuiert wurde. Es war ein wahrer Exodus. Als Bezirksschornsteinfeger für Kranenburg und Zyfflich habe ich damals jede Menge Bundeswehr, Feuerwehr und Bau-Unternehmer auf den Straßen gesehen, die sich um die Stärkung, Abdichtung der Deiche kümmerten. Und Viehtransporter jede Menge.“
Josef Gietemann hatte beim Hochwasser 1995 auch viel zu tun. Er selbst hat damals als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr „in allen Häusern, die westlich der Keekener Straße liegen, kontrolliert, ob die Heizöltanks gegen Aufschwemmen abgesichert waren. Außerdem haben wir Info-Flugblätter verteilt.“ Jene Flugblätter, die der Kreis Kleve nach Ausrufung des Katastrophenalarms am 30. Januar 1995 in der Bevölkerung über die Feuerwehrleute verteilen ließen.
Feuerwehrleute waren bis zur Erschöpfung im Einsatz
Auch über die Feuerwehrleute der Löschgruppe Düffelward. 18 unermüdliche Ehrenamtliche, die wie alle Feuerwehrkollegen bis zu Erschöpfung im Einsatz waren. Daran erinnert sich der damalige und heutige Löschgruppenführer Udo van Brakel (58) nur zu gut. Mit seinen Kameraden hat er an allen Hochwasserfronten mit angepackt und sich u.a. am Deich, bei der Evakuierung der Schänzer, bei der Sicherung von Schwachstellen und tragen von Mobiliar in höhere Etagen der Dorfbewohner und an vielen anderen Stellen engagiert.
„Eine Woche war die Feuerwache unser Zuhause. Während wir anderen halfen, haben sich Arbeitskollegen um unsere Familien gekümmert, für die wir keine Zeit hatten. Kameradschaft und Hilfsbereitschaft waren beispiellos riesig!“ Als die alte Hochwassermauer in Schenkenschanz am Hof Timpe unterspült wurde, wurde dort der ganze Sand des Spielplatzes genutzt, um mit Sandsäcken die Mauer zu sichern. Bei der Überfahrt über den Rhein seien dann die Sirenen unheilverkündend los gegangen - Katastrophenalarm! Der forderte dann nochmals die ganze Kraft der engagierten Wehrleute – nicht nur in Düffelward.
Wie das Hochwasser am Niederrhein entstand
Übrigens: Entstehen konnte das Hochwasser, weil mehrere starke Niederschlagsperioden Ende 1994/Anfang 1995 dem gesamten Rheingebiet viel Wasser brachten. Außerdem führte das Mittelgebirge mächtige Schneedecken, die wegen milder Festlandsluft kontinuierlich abschmolzen und mit weiteren ergiebigen Regenfällen schließlich zum Pegelhöchststand von 9,84 am 1. Februar 1995 in Emmerich führten.