Kleve/Bedburg-Hau. . Der Prozess um den Mord in einem Supermarkt im Jahr 2014 wird zurzeit vor dem Landgericht Kleve neu aufgerollt. Renommierter Orientalist als Gutachter.

Welche tieferen Motive trieben einen 23-jährigen und einen 32-jährigen Mann aus Bedburg-Hau dazu, ihren Kontrahenten, mit dessen Familie sie seit Jahren zerstritten waren, zu ermorden? Darum ging es am zweiten Prozesstag der Neuverhandlung gegen die beiden jesidischen Brüder. Mit 44 Messerstichen hatten die beiden Angeklagten den 38-Jährigen im März 2014 blutig niedergestochen. Mitten unter den Augen der Öffentlichkeit, in einem Supermarkt. Als „Lidl-Mord“ hatte die Clan-Fehde der beiden türkischen Familien für Schlagzeilen gesorgt – Ende 2014 wurden die Täter wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt.

Nun also wird der Prozess neu aufgerollt. Grund dafür ist die Revision eines Nebenklägers, der mit dem Fall bis vor den Bundesgerichtshof gezogen war. Das Mordmerkmal der Heimtücke sei mit einer unzureichenden Begründung verneint worden, hieß es dazu aus Karlsruhe. „Mord oder Totschlag?“ lautet nun die Kernfrage der folgenden Verhandlungstage.

Renommierter Kenner der jesidischen Kultur

Als psychologischer Gutachter kam am Montag im Zeugenstand kein Unbekannter zu Wort: Der Orientalist und Traumatologe Jan Ilhan Kizilhan gilt bundesweit als renommierter Kenner der jesidischen Kultur; vor Gericht gab er erhellende Einblicke in die Funktionsweise und die sozialen Strukturen dieser patriarchal geprägten Gesellschaft. „Die Jesiden aus der Türkei leben seit den 60er Jahren in Deutschland, als sie als Gastarbeiter in die Bundesrepublik kamen. Tatsächlich gehörte der Kreis Kleve zu den Hauptsiedlungsgebieten“, erläuterte Kizilhan. „Wenn die Ehre einer jesidischen Familie verletzt wurde, sei es durch eine Körperverletzung oder durch den Umstand, dass ein weibliches Familienmitglied Sex vor der Ehe hatte, muss die Familie diese Ehre wiederherstellen.“

Dies könne durch eine Geldzahlung, einen Handel oder auch durch eine arrangierte Ehe von jeweils einem Mitglied der zerstrittenen Familien geschehen. Oder eben durch eine „gleichwertige“ Vergeltungstat. „Aus allen Vorgängen in einer jesidischen Familie kann das einzelne Individuum sich nicht rausziehen. Das Kollektiv entscheidet und stellt auch an die Jugend entsprechende Ansprüche, die traditionellen Wertevorstellungen anzunehmen und nach ihnen zu leben.“

Vorgeschichte zu der Bluttat

Denn wer begreifen will, was hier geschehen ist, muss die weit reichende Vorgeschichte zu der Bluttat kennen: So hatte das spätere Mordopfer im Jahr 2008 versucht, einen Bruder der beiden Angeklagten zu töten – dafür wurde er zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und hatte diese auch verbüßt. Ein Bruder der beiden Angeklagten soll dennoch Rache geschworen und angekündigt haben, zwei Familienmitglieder zu „opfern“, um den missglückten Tötungsversuch zu sühnen. Eben jene beiden, die nun vor Gericht stehen – so zumindest lautet die Argumentation der Nebenklage. Die Messerattacke im Lidl sei demnach angekündigt und von langer Hand geplant gewesen – und somit kein Totschlag, sondern Mord.

Ob diese These sich beweisen lässt, werden vor allem die weiteren Zeugenaussagen zeigen. Eines ist dieser Fall wohl schon jetzt: Ein Lehrstück über gescheiterte Integration in Parallelgesellschaften, die mitten in einem Rechtsstaat nach ihren eigenen Gesetzen leben.