Essen. Erstmals sind Besucher für Sonntag, 2. Juni, auf den ehemaligen Kirmesplatz in Essen eingeladen. So läuft dort das Geschäft mit käuflichem Sex.
Wer St.-Pauli-Romantik und rot blinkende Herzen sucht, ist auf dem Essener Straßenstrich falsch: Hier geht es nicht um Wohlfühl-Erotik, sondern um das Geschäft mit dem Sex. Am Sonntag, 2. Juni, können Interessierte im Rahmen des Internationalen Huren-Tages erstmals in Essen einen Blick hinter die Kulissen werfen. Sexarbeit aus der Schmuddelecke zu holen, für Akzeptanz und Respekt gegenüber den Prostituierten zu werben, ist Ziel der Aktion.
Von 11 bis 13 Uhr lädt die Caritas-SkF-Essen gGmbH (CSE) mit ihren Kooperationspartnern Suchthilfe Direkt, Bella Donna und Gesundheitsamt dazu ein, sich auf dem legalen Straßenstrich umzusehen. Dabei können Besucherinnen und Besucher an Führungen über das gut 11.000 Quadratmeter große Gelände des ehemaligen Kirmesplatzes an der Gladbecker Straße 140 teilnehmen und sich über die Hilfsangebote im „Strichpunkt“-Container informieren.
Besucher können am Huren-Tag an Führungen auf dem Essener Straßenstrich teilnehmen
Neugierige Blicke auf Wohnwagen und Verrichtungsboxen, in denen die Sexarbeiterinnen sonst ihre Dienste anbieten, sind durchaus erwünscht. „Sexarbeit ist nicht schmutzig. Wir wollen Berührungsängste abbauen, erklären, warum der Straßenstrich wichtig ist, um Toleranz werben, Begegnungen ermöglichen und die Chance geben, Fragen zu stellen“, sagt Maike van Ackern (37), Diplom-Sozialarbeiterin und Koordinatorin der Hilfsangebote auf dem Straßenstrich.
Ein solcher Aktionstag sei eine gute Gelegenheit, eigene Moralvorstellungen auf den Prüfstand zu stellen. Van Ackern ist neugierig, wie das Angebot angenommen wird: „Vielleicht kommen zwei, vielleicht 200 Leute.“
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Wie viele Prostituierte die Besucher am Aktionstag auf dem Platz antreffen werden, weiß die Sozialarbeiterin nicht. „Wir sagen den Frauen natürlich, dass Besucher kommen. Wer auf keinen Fall gesehen werden möchte, kann dann später mit der Arbeit beginnen.“ Ganz bewusst habe man sich nur für ein zweistündiges Zeitfenster entschieden. „Wir können ja nicht den ganzen Tag den Betrieb hier lahmlegen.“
Der Essener Straßenstrich gilt deutschlandweit als Vorreiter in Sachen Sicherheit für Sexarbeiterinnen
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Maike van Ackern lobt das Angebot der Stadt ausdrücklich, die 2009 den ehemaligen Kirmesplatz, weit weg von Kitas und Wohnbebauung, aber innenstadtnah, umbauen ließ und für käuflichen Sex freigegeben hat.
„Hier können die Frauen viel sicherer arbeiten als früher auf dem Straßenstrich an der Pferdebahnstraße, wo es ein paar Wohnwagen, aber keine Verrichtungsboxen gab“, beschreibt die Sozialarbeiterin den Unterschied. Damals seien die Frauen oft in die Autos der Freier einstiegen und mit ihnen ins nahe Gewerbegebiet gefahren – nachts und an Wochenenden oft menschenleer und deshalb gefährlich. Dieses Video zeigt Eindrücke des Essener Straßenstrichs
An der Gladbecker Straße ist das anders, der Platz ist auch nachts hell beleuchtet und eigentlich nie leer. Die meisten Freier kommen mit dem Auto, fahren den mit Pollern markierten Kreis beziehungsweise Halbkreis ab, führen Kontaktgespräche mit den Frauen am Autofenster und steuern, wenn man sich einig wird, meist eine der zehn Verrichtungsboxen im hinteren Teil des Geländes an. Dort findet der Sex im Auto statt.
Straßenstrich in Essen: Verrichtungsboxen gibt es für Autofahrer und Fußgänger
Auch drei kleinere Verrichtungsboxen, ausgestattet mit einer Metall-Liege, stehen für Fußgänger, Rad-, Motorrad- oder Lkw-Fahrer zur Verfügung. Die Frauen warten am Rundkurs auf Kunden, wo vor kurzem Unterstände aufgestellt wurden, die vor Regen und praller Sonne schützen. Die zehn Wohnwagen auf dem Gelände gehören laut Maike van Ackern einem Privatmann, der sie stundenweise an die Frauen vermietet.
Solch ein geschützter Bereich für legale Prostitution sei auf jeden Fall sicherer als Verabredungen übers Internet in Hotels, Gewerbegebieten oder in der eigenen Wohnung. „Durch die coronabedingte Schließung von Straßenstrich und Bordellen sind viele Frauen leider in den privaten Bereich abgewandert, wo wir sie auch viel schlechter mit Hilfsangeboten erreichen“, bedauert van Ackern.
Sie schätzt die Zahl der Sexarbeiterinnen an der Gladbecker Straße tagsüber auf 15 bis 20, abends auf 30 bis 40. „Zu Zeiten der EU-Ost-Erweiterung, als viele Frauen aus Bulgarien und Rumänien kamen, war es hier richtig voll.“
Die Freier kommen in der Mittagspause oder nach der Arbeit, in Kleinwagen oder Luxuskarosse, mit Kindersitz auf der Rückbank, sogar im Firmenwagen mit deutlich sichtbarem Werbeaufdruck. „Viel Betrieb ist während der Automessen, aber wenn Fußball läuft, ist meist nicht viel los“, weiß die Sozialarbeiterin. Viele Frauen fürchteten deshalb Umsatzeinbußen während der kommenden Europameisterschaft.
Auf dem Essener Straßenstrich fällt für die Prostituierten keine Miete an
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Sexuelle Dienstleistungen anbieten kann dort im Prinzip jede Frau ab 18. Voraussetzung ist nur ein sogenannter Prostituiertenausweis, den es nach Beratung beim Gesundheits- und Ordnungsamt gibt. „Natürlich ist das auch eine Form von Stigmatisierung. Die Frauen laufen immer Gefahr, enttarnt zu werden, wenn jemand den Ausweis findet, bei einem Unfall oder wenn sich das Kind zu Hause Geld zum Einkaufen aus dem Portemonnaie nehmen soll“, sagt Maike van Ackern.
Aktuell laufen die Geschäfte nicht so richtig gut, klagt eine der Sexarbeiterinnen. Die Leute hätten wohl einfach weniger Geld. Was sie auch stört: „Viele wollen Sex ohne Kondom, obwohl das ja Pflicht ist.“ Geld verdienen oder die eigene Gesundheit schützten – oft eine fatale Entscheidung.
Zumindest vor gewalttätigen Freiern seien die Sexarbeiterinnen auf dem Straßenstrich einigermaßen geschützt. „Die Frau kann in den Boxen einen Alarmknopf drücken, ein akustisches und optisches Signal auslösen, um andere Anwesende auf sich aufmerksam zu machen“, erläutert Maike van Ackern beim Rundgang über das Gelände. Während der Fahrer so nah an der Boxenwand parken muss, dass er die Autotür nicht öffnen kann, gibt es für die Frau einen Fluchtweg Richtung Platzmitte.
Maike van Ackern arbeitet Zeit ihres Berufslebens mit Prostituierten und kann sich derzeit keinen anderen Job vorstellen. Früher war sie ein- bis zweimal pro Woche im „Strichpunkt“ als Ansprechpartnerin für die Frauen da, heute ist sie es noch gelegentlich. Viele der Frauen kennt sie vom Sehen, oft auch ihren Arbeitsnamen.
Der Beratungscontainer ist täglich außer sonntags für einige Stunden geöffnet. Die Frauen machen dort Pause, trinken einen Kaffee, wollen sich im Winter kurz aufwärmen oder einfach nur ein bisschen quatschen. Es gibt Tütensuppe, belegte Brote, Kondome, Feuchttücher, Gleitgel und neue Spritzen für die, die Drogen nehmen.
„In der Regel arbeiten die Frauen hier selbstständig. Im Einzelfall kann ich natürlich nicht ausschließen, dass zum Beispiel der Partner von den Einnahmen profitiert, sagt van Ackern. „Den klassischen Zuhälter, der Frauen mit brutaler, körperlicher Gewalt zum Anschaffen zwingt, erleben wir in Essen auf dem Straßenstrich heute weniger als noch in den 1980er Jahren. Heute läuft das eher über emotionale Abhängigkeiten“, beobachtet die Essenerin.
Essener Straßenstrich: Viele Frauen arbeiten selbstständig im Sex-Gewerbe, um finanzielle Engpässe auszugleichen
Sie schätzt, dass etwa ein Drittel der Prostituierten auf dem Straßenstrich aus Osteuropa, meist Bulgarien, kommen, ein Drittel Drogen konsumiere und ein Drittel professionell arbeite, um finanzielle Engpässe zu überbrücken.
15 Euro Steuern fallen für jede registrierte Sexarbeiterin pro Arbeitstag an, ob die gezahlt werden, ist aber schwierig zu kontrollieren. Weitere Kosten entfallen. „Man muss hier kein Zimmer anmieten wie im Bordell“, erklärt die Sozialarbeiterin. Sie bedauert, dass der Straßenstrich in Sachen Akzeptanz von Sexarbeit offenbar nach Escortservice, Domina-Studios und Bordellen an letzter Stelle rangiere.
Essener Sozialarbeiterin spricht sich gegen ein generelles Sexkaufverbot aus
Dass in der Politik Stimmen lauter werden, den Kauf von sexuellen Dienstleistungen ganz zu verbieten, hält van Ackern für das falsche Signal. Das würde legale Optionen wie den Essener Straßenstrich verhindern und am Ende nicht nur die Freier, sondern indirekt auch die Sexarbeiterinnen (und -arbeiter) kriminalisieren. „Dass Menschen Sex kaufen, wird es immer geben. Selbstbestimmte Sexarbeit ist nicht verwerflich, Menschenhandel aber eine Straftat, ein Verbrechen.“
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