Essen. Ein Besuch im Essener Bordell: So erleben die Sexarbeiterinnen die Feiertage zum Jahreswechsel. Wie sich Corona auf das Rotlichtviertel auswirkt.
Derzeit sind viele Menschen in der Essener Innenstadt unterwegs, drängen sich in Läden und auf dem Weihnachtsmarkt. Doch wie sieht es im Rotlichtviertel Stahlstraße am Rande der City aus? Sind Betreiber, Prostituierte und Freier in Feierstimmung oder wirkt sich die angespannte wirtschaftliche Lage auch auf das sprichwörtlich älteste Gewerbe der Welt aus? Ein Ortsbesuch.
Ein regnerischer Spätnachmittag kurz vor Weihnachten: Wir sind mit Rebecca (40), die ihr Geld mit „gewerblicher Zimmervermietung“, das heißt als Bordellchefin, verdient, zu Rundgang und Gespräch verabredet. Es ist wenig los auf der Stahlstraße. Während wir am Eingang zum Rotlichtviertel auf unsere Gesprächspartnerin warten, spricht uns ein älterer Mann, offenbar auf der Suche nach Sexkontakten, an, will wissen, ob wir hier neu sind.
Wir outen uns als Journalistinnen und kommen mit ihm ins Gespräch. Er erzählt von Bordellbesuchen über viele Jahrzehnte, denkt ein bisschen wehmütig an alte Zeiten, in denen es nach seiner Einschätzung auch in dieser Branche noch mehr „menschelte“: „Früher war da mehr Herzlichkeit. Heute wollen alle nur möglichst viel Geld verdienen“, sagt er und schüttelt angesichts der Preise, die zum Beispiel in Düsseldorf aufgerufen würden, mit dem Kopf.
Im Essener Rotlichtviertel gibt es weniger Prostituierte und Freier als früher
Dann macht er sich auf in Richtung der sogenannten Koberräume, der gläsernen Vorbauten der Häuser, in denen sich die Prostituierten leicht bekleidet präsentieren und auf Kunden warten.
Bordellchefin Rebecca, die ihren richtigen Namen nicht im Artikel lesen möchte – „ich muss mich und vor allem meine Kinder schützen“ –, führt uns in die Küche eines ihrer Häuser. Es ist sehr warm, damit die leicht bekleideten Sexarbeiterinnen, die sich nebenan plaudernd auf die nächsten Kunden vorbereiten, nicht frieren.
„Die offizielle Bezeichnung für die Kunden ist schon Freier, aber ich spreche gern von Gästen“, sagt Rebecca, die nach dem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung zunächst in einem „bürgerlichen“ Beruf gearbeitet hat.
Dann sei sie probeweise in das Gewerbe ihres Vaters im Rotlichtmilieu eingestiegen, habe beide Jobs erst einmal parallel ausübt. Heute vermietet sie Apartments in Essen und Dortmund an Sexarbeiterinnen, pendelt nach eigenen Angaben zwischen beiden Städten, kontrolliert, ob die Räume ordnungsgemäß gereinigt sind, Heizung und Licht funktionieren.
Die Tagesmiete liege bei 85 bis 95 Euro, die Frauen würden als selbstständige Unternehmerinnen die Zimmer tageweise für ihre Arbeit anmieten. „Was sie dort machen, geht mich nichts an. Das ist wie bei einem normalen Mietverhältnis“, betont Rebecca. Sie habe zwar einen Generalschlüssel, den sie aber nur im Notfall nutze.
In den Wohnküchen der Häuser herrscht adventliche Stimmung
Die Apartments wirken wie Hotelzimmer, sind zweckmäßig, aber durchaus ansprechend eingerichtet, in einigen riecht es angenehm nach Duftkerzen. In einer modernen, gemütlichen Wohnküche mit Essecke und Fernseher steht ein Adventskranz auf dem Tisch, der Raum ist mit Lichterketten und Weihnachtskugeln geschmückt.
Während wir mit Rebecca sprechen, kommt eine ganz in Lack gekleidete Sexarbeiterin auf hochhackigen Stiefeln herein, holt sich vor dem nächsten Einsatz noch schnell ein Getränk aus dem Kühlschrank.
Es ist Melanie (37), die schon seit einigen Jahren an der Stahlstraße im Sado-Maso-Bereich als Domina arbeitet. Sie bereitet gerade das aufwendig mit Spiegeln und Accessoires wie Peitschen und Fessel-Utensilien gestaltete Studio vor, in dem sie Männern Bestrafungsfantasien erfüllt, ohne mit ihnen Geschlechtsverkehr zu haben, wie sie sagt.
An den kommenden Feiertagen werde sie nicht im Dienst sein, lieber Zeit mit der Familie verbringen. „Die wissen schon, was ich arbeite, aber sie haben kein Problem damit. Vielleicht wäre das anders, wenn ich auch Verkehr anbieten würde“, sagt Melanie, die schon Medienerfahrung hat und sich bereitwillig fotografieren lässt.
Viele Sexarbeiterinnen verbringen die Feiertage zu Hause
In der Zeit vor und zwischen den Feiertagen werde sie arbeiten: „Die Leute haben schließlich Weihnachtsgeld bekommen“, hofft sie auf gute Umsätze. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage sitze bei vielen das Geld nicht mehr so locker.
Laut Bordellchefin Rebecca kommen einige Freier heute viel seltener als früher zur Stahlstraße oder verzichten ganz auf den „Luxus eines Bordellbesuchs“. Das macht auch Nora zu schaffen, die nach eigenen Angaben seit vielen Jahren dort arbeitet und ihre Freier im etwas kleineren SM-Raum Tür an Tür mit ihrer Kollegin Melanie empfängt. „Ich hoffe, dass das wieder besser wird“, sagt Nora und lässt uns einen Blick in ihren Arbeitsraum werfen.
Nach den Corona-Lockdowns seien die Umsätze schon deutlich eingebrochen, erklärt Bordellchefin Rebecca, auch wenn die Geschäfte bei Messen wie der Motorshow noch gut liefen. „Der Umsatz während der Pferdemesse Equitana ist dagegen eher enttäuschend“, sagt Rebecca und schmunzelt dabei. Sogar unter einer längeren Straßensperrung im Umfeld habe der Betrieb arg gelitten. Die kommende Fußball-EM sieht sie mit Sorge: „Da gucken dann die meisten Fußball.“
Von den 16 Häusern des Viertels mit je sechs bis zehn Apartments seien seit Corona zwei komplett geschlossen. Auch die gegenüberliegende Häuserzeile ist an diesem Spätnachmittag dunkel. Die übrigen Häuser, augenscheinlich Relikte aus den 1960er Jahren, haben zwar die besten Zeiten lange hinter sich, sorgen aber mit ihrer charakteristischen rot-blauen Beleuchtung dafür, dass die Bezeichnung Rotlichtviertel weiterhin zutrifft.
Seit Corona arbeiten viele der Frauen in privaten Wohnungen
„In der Coronazeit, als hier der Betrieb komplett ruhte, haben einige der Frauen in privaten Wohnungen weitergearbeitet und sind auch danach nicht wieder zurückgekommen. Das setzt natürlich eine Kettenreaktion in Gang. Wenn die Freier ihre favorisierten Damen nicht mehr finden, suchen sie im Internet und bleiben oft auch ganz weg“, sagt Rebecca. Wohin sich die Kundenströme bewegten, sei schwer zu analysieren.
Onlineportale, auf denen Männer problemlos Frauen aus ihrem Umkreis für Sex-Dienstleistungen finden könnten, setzten einem klassischen Bordellbetrieb wie an der Stahlstraße ebenfalls zu. „Die verabreden sich dann privat“, sagt Rebecca, die diese Entwicklung in Bezug auf die Sicherheit der Frauen allerdings sehr bedenklich findet.
Gleiches gelte auch für die politischen Bestrebungen, legale Prostitution nach skandinavischem Vorbild zu verbieten. „Mal abgesehen davon, dass wir hier unser Geld verdienen, halte ich es für falsch, die Frauen aus dem legalen und damit geschützten Bereich in die Illegalität zu drängen“, sagt Rebecca.
Dass es keinen käuflichen Sex mehr geben werde, nur weil man ihn gesetzlich verbiete, hält die Branchenkennerin außerdem für eine Illusion. „Prostitution wird es immer geben, dann halt nur an anderen Orten, wo man sie weniger gut kontrollieren kann.“ Ein sichtbarer Rotlichtbezirk wie die Stahlstraße sei akzeptiert und gehöre zur Stadt.
Bordellchefin hält ein Verbot von legaler Prostitution für gefährlich
„Ich habe da keine rosarote Brille auf und kann die Kritik, die es von vielen Seiten gibt, durchaus nachvollziehen. Aber wenn man legale Prostitution abschafft, sorgt man für eine Abwanderung des Gewerbes, möglicherweise auch in Wohngebiete, wo sie nicht hingehört“, befürchtet Rebecca.
„Hier müssen die Frauen Anmeldebescheinigungen vorlegen, es gibt Kontrollen durch das Ordnungs- und Gesundheitsamt, aber auch eine Art von sozialer Kontrolle, wenn die Kolleginnen gleich nebenan arbeiten.“ Rebecca begrüßt ein entsprechendes Gesetz von 2017, das dazu beitrage, die Prostitution „ein wenig aus der Schmuddelecke“ zu holen.
Zur Sicherheit der Frauen gebe es Alarmknöpfe auf den Zimmern, Handyverbot für Freier und Kondompflicht, auf die mit vielen Aushängen und Schildern in den Häusern hingewiesen wird.
Die Sexarbeiterinnen an der Stahlstraße hätten gültige Arbeitspapiere, die sie beim Anmieten der Räume vorlegen müssten, versichert Rebecca. Polizei und Ordnungsamt seien regelmäßig da und wer zum Beispiel vor den Häusern falsch parke, riskiere einen Strafzettel.
Die Straße selbst sei städtisch, die Häuser gehörten privaten Eigentümern. Rebecca findet, dass die Stadt sich mehr um das Umfeld kümmern müsse. So sei der Eingangsbereich mit der geschwungenen Sichtschutzmauer ziemlich verkommen. Auf ihre Initiative prange dort jetzt immerhin ein einladendes Graffito, so die Geschäftsfrau.
Die meisten Prostituierten kommen derzeit aus Osteuropa
Ob die Frauen auf eigene Initiative arbeiteten oder es Zuhälter im Hintergrund gebe, sei nicht immer offensichtlich, gibt Rebecca zu. „Wenn eine Frau öfter Besuch vom selben Mann bekommt und es dann zu Streit kommt, denkt man sich natürlich seinen Teil“, sagt sie. Klar sei aber: „Wer Theater macht, fliegt raus.“
Gerade in der Weihnachtszeit trinke man auch mal gemeinsam Kaffee oder backe Plätzchen, wenn wenig zu tun sei. Längst nicht alle Prostituierten arbeiteten an den Feiertagen. „Gerade die aus anderen europäischen Ländern, die Mehrzahl der Frauen kommt derzeit aus Rumänien oder Bulgarien, fahren oft nach Hause zu ihren Familien.“
An Silvester machten viele der Sexarbeiterinnen Pause. „Viel Alkohol führt ja erfahrungsgemäß schon mal zu Randale, und das braucht hier niemand“, so die Bordellchefin.
Elena aus der Dominikanischen Republik wird wohl an vielen der kommenden Tage arbeiten. Sie sei gar nicht so traurig, dass sie jetzt nicht in ihrer Heimat sei. Dort gebe es nur wenig weihnachtliche Deko. Hier gefalle es ihr mit all den Lichtern ganz gut, übersetzt Rebecca, die fließend Spanisch spricht, für uns. Wie es Elena ohne Freunde und Verwandte, weit weg von der Heimat, wirklich geht, können wir nur erahnen.
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