Essen. Nach dem Angriff gegen Bürgermeister Rolf Fliß wird ein weiterer Vorfall bekannt. In der Innenstadt musste die Polizei kommen.

Nach dem Angriff auf den Essener Bürgermeister Rolf Fliß (Grüne) wird jetzt ein weiterer Übergriff auf Essener Politiker bekannt, der bereits einige Zeit zurückliegt und bislang keine strafrechtlichen Konsequenzen hatte. So berichtet die Frillendorfer SPD-Landtagsabgeordnete Julia Kahle-Hausmann, dass sie am 16. März 2024 an einem Info-Stand ihrer Partei in der Nähe des Kennedyplatzes so massiv körperlich bedrängt wurde, dass die Polizei gerufen werden musste. Auf eine Anzeige verzichtete Julia Kahle-Hausmann damals bewusst. Die Polizei bestätigt den Einsatz.

Julia Kahle-Hausmann, SPD, berichtet, dass sie im März von Passanten an einem Info-Stand bedrängt worden sei.
Julia Kahle-Hausmann, SPD, berichtet, dass sie im März von Passanten an einem Info-Stand bedrängt worden sei. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Grundsätzlich beklagen Politikerinnen und Politiker in dieser Stadt, dass sie im Straßenwahlkampf immer massiver angefeindet werden. „Die Stimmung gegenüber Politikern ist heute sehr viel aggressiver als noch vor wenigen Jahren“, sagt Julia Kahle-Hausmann, die seit 1998 politisch aktiv ist.

Die Politiker? Alle korrupt und nur um eigene Vorteile bedacht, heißt es oft

„In den Nullerjahren unter der rot-grünen Koalition in Berlin war es vor allem die Agenda 2010, die viele Leute wütend gemacht hat, das haben wir damals sehr stark zu spüren bekommen“, erinnert sich Kahle-Hausmann. „Grundsätzlich erfahren wir im Straßenwahlkampf, dass angeblich alle Politiker korrupt sind und ausschließlich in die eigene Tasche wirtschaften.“

Kaum aufgehängt, schon zerstört: An Wahlplakaten seine Zerstörungswut auszulassen, ist gang und gäbe.
Kaum aufgehängt, schon zerstört: An Wahlplakaten seine Zerstörungswut auszulassen, ist gang und gäbe. © Gerd Niewerth

Doch die Vorwürfe fielen inzwischen viel heftiger aus: „Bis zum Pädophilie-Vorwurf ist alles dabei, für viele Bürgerinnen und Bürger sind Politiker grundlegend böse und schlecht“, sagt die SPD-Politikerin. Wenn der aktuelle Bundeskanzler Olaf Scholz behauptet, er könne sich im Cum-Ex-Skandal nicht an Einzelheiten erinnern, „dann heißt es, wir alle würden an Gedächtnisschwund leiden“.

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Am 16. März 2024 stand sie mit Kollegen der SPD-Landtagsfraktion an einem Infostand nahe der Marktkirche, es ging um das Thema Wohnen, und zwei offensichtlich angetrunkene Männer, deutsch, kamen auf Julia Kahle-Hausmann zu und stellten bohrende Fragen: Was sie überhaupt mache. Was das alles überhaupt solle. Julia Kahle-Hausmann, 1,80 Meter groß, wich zunächst etwas zurück, blieb eigenen Angaben zufolge dann aber stehen. „So nah, bis einer der Männer direkt vor mir stand und sagte, was ich jetzt tun wolle.“ Eine klare Bedrohungs-Situation. Abstand einnehmen wollte der Mann nicht; mittlerweile hatten sich Genossen vom Parteistand eingemischt; man rief die Polizei. Die Beamten sprachen einen Platzverweis aus, an den sich der Mann nicht hielt; entsprechend nahmen die Polizisten den Mann mit und steckten ihn für mehrere Stunden ins Gewahrsam.

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„Ich habe zwei Nächte schlecht geschlafen, aber das war‘s auch schon“, sagt Julia Kahle-Hausmann jetzt; auf eine Anzeige habe sie bewusst verzichtet. Ob sie jetzt, nach den jüngsten Vorfällen von Übergriffen gegen deutsche Politiker, immer noch auf eine Anzeige verzichten würde, wisse sie derzeit nicht.

Im Eifer des Wortgefechts gehen manchem am Infostand schlicht die Gäule durch

Die Stimmung gegen Politikerinnen und Politiker sei so aufgeheizt wie nie, hat Julia Kahle-Hausmann festgestellt. Wo verläuft die Grenze zwischen Dampfablassen und Beleidigung? Wieviel an Nehmerqualität gehört zum Berufsbild von Politikern? Ein bisschen Robustheit muss man schon mitbringen, glaubt Matthias Hauer, Bundestagsabgeordneter im Essener Süden und Vorsitzender der örtlichen Christdemokraten. Denn selbstredend spreche nicht jeder druckreif, und im Eifer des Wortgefechts gingen manchem halt schon mal die Gäule durch.

Der „Stinkefinger“ als Zeichen der Verachtung: Das Klima bei Veranstaltungen wie hier vor zwei Jahren im SPD-Landtagswahlkampf wird rauher.
Der „Stinkefinger“ als Zeichen der Verachtung: Das Klima bei Veranstaltungen wie hier vor zwei Jahren im SPD-Landtagswahlkampf wird rauher. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Seine CDU habe den „Höhepunkt der Anfeindungen“, wie er es nennt, in den Jahren 2015 und 2016 erlebt, im Zenit der Flüchtlingskrise – da wurde beschimpft und bedroht, aber immerhin nicht körperlich angegangen: „Das geht ja überhaupt nicht.“ Tatsächlich nimmt Hauer derzeit eine zunehmend aufgeheizte Stimmung wahr – „auch gegen uns“. Zugespitzt und radikalisiert werde auf verschiedenen Seiten, von ganz rechts bis ganz links, schwer in Zahlen auszudrücken und schwer zu bewerten. Was mancher als Dampfablassen versteht, geht anderen schon deutlich zu weit.

Eingeschlagene Fenster, Schmierereien und ein Post mit einer Pistole

Und Schmierereien an der Parteizentrale wie auch eingeschlagene Fenster gab es schon vor Jahren. Hauer selbst hat bislang ein einziges Mal persönlich Anzeige erstattet – als vor knapp zwei Jahren auf Twitter (heute: X) jemand eine Pistole postete und den Abgeordneten mit seinem Profil markierte. Und doch: Wo die Grenze überschritten ist, was ein Politiker hinnehmen mag und was nicht, entscheidet jeder für sich.

Vor allem die AfD habe Hass und Hetze in die Debatte gebracht, glauben die Veranstalter der Demo gegen den AfD-Bundesparteitag Ende Juni in Essen.
Vor allem die AfD habe Hass und Hetze in die Debatte gebracht, glauben die Veranstalter der Demo gegen den AfD-Bundesparteitag Ende Juni in Essen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Hauers Parteifreund im Rat, Dirk Kalweit, beweist nicht nur als Kommunalpolitiker einen langen Atem. Regelmäßig joggt der Vorsitzende des CDU-Ortsverbandes Kupferdreh/Byfang durch seinen Wahlkreis. Auf seinem Rundweg werde er häufig gegrüßt, manchmal biete man ein Wasser als Erfrischung an. Das klingt, als wäre die Welt im Essener Süd-Osten noch in Ordnung. Übergriffe müsse er nicht fürchten, Gespräche, die er mit Bürgerinnen und Bürgern liefen in der Regel respektvoll ab. Auch dann, wenn man nicht einer Meinung sei.

Gestern Böllerwürfe gegen Feuerwehrleute, heute werden Politiker zur Zielscheibe

Aber auch Kalweit hat bemerkt: „Verbale Zuspitzungen und Attacken, auch unterhalb der Gürtellinie“ hätten zugenommen. „Das hat es so vor fünf oder zehn Jahren noch nicht gegeben.“ Besonders drastisch erlebe er es in den sozialen Medien. Beschimpfungen und Beleidigungen, nicht etwa anonym, sondern mit vollem Namen.

Die körperliche Attacke gegen Bürgermeister Rolf Fliß von den Essener Grünen hat die Debatte um den eskalierenden Ton in der Politik entfacht.
Die körperliche Attacke gegen Bürgermeister Rolf Fliß von den Essener Grünen hat die Debatte um den eskalierenden Ton in der Politik entfacht. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Nicht dass da die Mehrheit die gute Kinderstube verlöre, „der Slogan ,Wir sind mehr‘ gilt auch für diejenigen, die die Demokratie und ihre Repräsenanten verteidigen“, betont FDP-Chef Ralf Witzel. Doch ein rauheres, mitunter regelrecht enthemmtes Klima beklagt auch er, eine Schroffheit, die vor Beleidigungen nicht Halt macht und bei einigen auch in einer regelrechten Politik- und Politiker-Verachtung mündet.

Von dort ist es zu verbalen oder gar tätlichen Angriffen nicht mehr weit. Der Staat und seine Repräsentanten als Zielscheibe: Gestern noch gab es Böllerwürfe auf Feuerwehrleute oder Polizisten, heute dient der Mandatsträger als Zielscheibe.

Während viele der AfD Mitschuld an der Eskalation geben, sieht die sich als Opfer

Und während manche der „Alternative für Deutschland“ eine Mitschuld an der eskalierenden Debatte geben, sieht man sich bei der Essener AfD in der Opferrolle. Es gebe einen spürbaren Anstieg an bedrohlichen Situationen an Wahlkampfständen, was nach Ansicht von Ratsfrau Stephanie Brecklinghaus auf „unmäßige Kritik anderer Parteien und in Medien“ zurückzuführen sei.

Am Gervinusplatz in Frohnhausen habe sie vor einigen Tagen die Polizei alarmieren müssen, als ein Mann mit körperlicher Gewalt drohte und sich nicht beruhigen ließ. „Wichtig ist, sich davon nicht provozieren zu lassen“, so Brecklinghaus. Sonst werde der Schwarze Peter der AfD zugeschoben. Die Polizei sei dann auch gekommen und habe geraten, Anzeige zu erstatten.

In verschiedenen Demonstrationen machen Zehntausende deutlich, wo sie die größte Gefahr im politischen Spektrum sehen: rechts.
In verschiedenen Demonstrationen machen Zehntausende deutlich, wo sie die größte Gefahr im politischen Spektrum sehen: rechts. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Bisweilen würden AfD-Wahlkämpfer in einer rüden und beleidigenden Wortwahl beschimpft, die von bürgerlichen Umgangsformen weit entfernt sei. Interessanterweise beobachte sie das besonders in wohlhabenderen Stadtteilen, betont Brecklinghaus. Und es betreffe wahlkämpfende Frauen noch krasser. „In Werden hat ein äußerlich sehr bürgerlich wirkender Mann vor mir ausgespuckt und ,F*** dich‘ gebrüllt“, sagt sie. Auch „Nazi-F***e“ sei ein schon fast gängiges Schimpfwort. „Im Essener Norden ist die Stimmung an unseren Ständen viel sachlicher.“

AfD-Beschimpfungen aus dem Auto und keine Linken-Plakate in Steele kleben

Bei den Wahlplakaten registriert aber nicht nur die AfD einen hohen Zerstörungsgrad nach kurzer Zeit. Teams, die Wahlplakate aufhängen, würden schon mal aus fahrenden Autos heraus beschimpft. Und bei der Linkspartei gebe es Mitglieder, die sich mit Blick auf die rechte Szene im Stadtteil erklärtermaßen weigern, in Steele Plakate aufzuhängen.

Sprecher Wolfgang Freye sieht die sozialen Medien als Brutstätte für enthemmte Reaktionen, „Anmache und Aggressivität“ hätten dort deutlich zugenommen: „Wenn ich mal etwas Politisches poste, dann reagieren ganze Heerscharen, die offenbar nur darauf gewartet haben.“

Bei den Parteigenossen in Dortmund würden regelmäßig die Scheiben eingeworfen, in Oberhausen gab es vor zwei Jahren gar einen Sprengstoff-Anschlag auf das Parteibüro der Linken. „Von sowas sind wir in Essen zum Glück verschont geblieben“, seufzt Freye.

Lieber nicht zu laut sagen.

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