Essen. Wenn an der Essener Hafenstraße über den Ausbau debattiert wird, geht es auch um politische Glaubwürdigkeit und soziale Symmetrie.
Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr: Das haben wir also jetzt von unserer demonstrativen Zurückhaltung, denn wie war das damals noch gleich im Rat der Stadt? Lasst uns erstmal ein kleines Stadion bauen, hieß es beschwichtigend, eines für knapp 20.000 Zuschauer, das dann mit dem sportlichen Erfolg wächst. Erst die Ecken, dann irgendwann womöglich der zweite Rang. 2008 war das und Rot-Weiss Essen viertklassig, später sogar insolvent, aber das Stadion kam, mit großer (auch grüner) Mehrheit übrigens, ein Zeichen politischen Mutes. Sowas erlebt man nicht mehr so häufig.
Der Stadion-Neubau war damals ein Zeichen politischen Mutes – und enthielt die Zusage für mehr
Zugegeben, der Mut war auch gepaart mit der Einsicht, dass ein Stadionrund, bei dem ausgerechnet die Fankurve wegen Baufälligkeit geschlossen werden musste und eines schönen Tages gar ein zwei Kilogramm schwerer Betonbrocken von der Dachkonstruktion fiel (zum Glück nicht während eines Spiels) – dass so ein Stadionrund nicht nur irgendwie ein bisschen renoviert, sondern schlicht neu gebaut werden musste. Erst mal ohne die Ecken, weil es Geld sparte.
Jetzt ist der Erfolg da, RWE klopft an die Tür zur 2. Bundesliga, verzeichnet an der Hafenstraße einen Saison-Schnitt von 16.556 Zuschauern, der noch üppiger ausfallen würde, wenn mancher Konkurrenz-Club mehr Fans mitbrächte, und meldet für das letzte Liga-Spiel am 10. Mai zum dritten Mal in Folge einen ausverkauften Heimbereich. Und dennoch stellt mancher plötzlich den Ausbau der vier Stadion-Ecken wieder in Frage. Das wird manchem eine Lehre sein, politische Zusagen künftig deutlich skeptischer als bisher zu beäugen, dabei gibt es gute Ausbau-Argumente für den nächsten Stammtisch.
Ein Stadion ist mehr als nur Infrastruktur, es ist auch Ort der Identifikation mit dem Verein und der Stadt
Denn Rot-Weiss Essen ist mehr denn je Identifikationsfaktor für eine Stadt, die davon nicht allzu viele zu bieten hat. Es geht hier abseits des sportlichen Geschehens viel um Tradition und nostalgische Erinnerungen, um Heimatgefühle und Lokalpatriotismus in seiner spielerischen Form. Und es geht – trotz mancher Auswüchse – auch immer um die Treue zu einem Verein, um Fairplay und Teamgeist, um ein Gemeinschaftsgefühl und Sinnstiftung, die viele im Alltag kaum noch erleben. Und die sich nirgends so verdichten, wie an diesem einen Ort: dem Stadion an der Hafenstraße 97a. Wenn also der sportliche Erfolg und damit die Nachfrage stimmen – warum nicht diesen Ort, so wie einst angekündigt, komplettieren?
Ein Ausbau der vier Stadion-Ecken würde zu den bereits vorhandenen wirtschaftlichen Effekten von rund 48 Millionen Euro noch neun Millionen zusätzlich auslösen, so hat es die Unternehmensberatung SLC ermittelt. Mag sein. Ein typisches Argument, um bürgerliche Parteien auf seine Seite zu ziehen. Aber wie viel mehr wert ist im Fußball die soziale Funktion? Hier ist die Stadtgesellschaft noch quer durch alle Schichten beisammen, hier haben auch die sonst oft Ausgegrenzten ihren Platz, hier sitzen bei überschaubaren Kosten die Leute von der Pforte mit denen der Chefetage beisammen, freuen und ärgern sich gemeinsam. Und geschenkt seien die Kanapees in den Logen – wo sind Standesdünkel aller Art im Alltag noch weniger ausgeprägt?
Die Konkurrenz zu Kitas und Schulen oder Verkehrsprojekten wird künstlich herbeigeredet
Schon wahr: Knapp 27 Millionen Euro, so viel dürfte die Stadion-Komplettierung nach jetzigem Stand kosten, sind eine Menge Geld. Und längst hat sicher irgendwer ausgerechnet, wie viele Schlaglöcher man davon mit Kaltasphalt füllen, wie viele Schultoiletten man sanieren, welche Klima-Projekte man verfolgen oder Kita-Plätze einstielen könnte. Allein: In eben diese Bereiche werden derzeit ebenfalls Rekordsummen investiert, die Konkurrenz wird also künstlich herbeigeredet. Und wer versucht, die einen gegen die anderen Projekte auszuspielen, hat ein krudes Verständnis von dem, was ein Gemeinwesen ausmacht. Es geht eben nicht darum, alle Ressourcen in eine Ecke zu lenken, was die Fachverwaltung dort ohnehin überfordern würde, sondern darum, das Großstadtleben in seiner ganzen Vielfalt abzubilden.
Und es geht, der ehemalige Stadtdirektor Christian Hülsmann hat das einmal sehr schön auf den Punkt gebracht, um die „soziale Symmetrie“ einer Stadt, die ein Kunstmuseum von Weltrang baute und die Philharmonie, die ein Weltkulturerbe erstrahlen lässt, für zig Millionen ein Bad aufmöbeln will und allein in der kommenden Spielzeit zweimal so viel Geld für den Betrieb bei Theater und Philharmonie locker macht wie der Stadion-Ausbau insgesamt kostet.
Ein Projekt von Maß und Mitte – weit entfernt von Größenwahn oder Verschwendungssucht
Ja, all dies ermöglicht einem Profiverein bessere Bedingungen. Aber eben auch seinen Fans. Es beschert die Möglichkeit für Spiele auf internationalem Niveau und die Chance, mehr Konzerte bei geringerer Belästigung des Umfelds zu veranstalten. Es ist die einzige große Einrichtung der Stadt, bei der es dank üppiger Fernsehgelder sogar die Option gibt, eines Tages Geld zu verdienen, sollte RWE in die zweite Liga aufsteigen. Es ist der nächste logische Schritt, denn eine Stadt, die in früheren Zeiten immer wieder Infrastruktur fahrlässig hat verlottern lassen, tut gut daran, die geschaffenenen Werte in Schuss zu halten und im Bedarfsfall auch zukunftsfähig zu machen. Der Ausbau der Stadionecken wäre genau dies: eine Investition in die Zukunft, maßvoll und weit entfernt von jeder Form von Größenwahn oder Verschwendungssucht.