Essen. Verdi hat ihre Mitglieder an die Urnen gerufen, um über einen unbefristeten Streik abzustimmen. Wie es danach weitergeht? Ein Stimmungsbild an der Basis.

Die dunkelbraune Holzkiste mit dem massiven Vorhängeschloss, in der sie die Stimmzettel sammeln, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Gut möglich, dass sie schon beim letzten großen Streik im öffentlichen Dienst im Einsatz war. 1992, als das öffentliche Leben über Wochen lahm lag. Busse und Bahnen fuhren nicht, der Müll blieb liegen, Kitas waren geschlossen.

Diesmal geht es allein um den öffentlichen Nahverkehr. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat die Beschäftigten der Ruhrbahn zur Urabstimmung aufgerufen. Jessica Schäfer und ihre Kollegin Andrea Kummetz waren deshalb schon in aller Herrgottsfrühe auf dem Betriebshof Stadtmitte unterwegs, ab 3.30 Uhr sammelten sie bei der Frühschicht die ersten Stimmzettel ein. Etwa 120 landen bis zum Morgen in der braunen Kiste. Wie ist die Stimmung? „Kämpferisch“, sagt Jessica Schäfer, die im Kundenservice der Ruhrbahn arbeitet. „Alle sind bereit.“

Nach erfolglosen, von Warnstreiks begleiteten Verhandlungsrunden, geht Verdi aufs Ganze. Mit einem unbefristeten Streik will die Gewerkschaft die Arbeitgeberseite zurück an den Verhandlungstisch zwingen und letztlich zum Einlenken bewegen. 75 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder in NRW müssen zustimmen.

Die Ruhrbahn sei in den 1990er Jahren stehen geblieben, klagt ein Straßenbahnfahrer

Im Pausenraum über dem U-Bahnhof am Rathaus, wo Inge und Michael Ritter als Verdi-Vertrauensleute, die Holzkiste entgegengenommen haben, wirkt die Stimmung am Morgen eher verschlafen als kämpferisch. Bus- und Straßenbahnfahrer bereiten sich auf ihre Schicht vor oder warten darauf, dass sie wieder zurück ans Steuer müssen.

Auch Feda Acar gibt seine Stimme ab. Der 50-Jährige ist seit 29 Jahren Straßenbahnfahrer. Die Ruhrbahn sei in den 1990er Jahren stehen geblieben, klagt er und erzählt aus seinem Alltag. Auf der Linie von Dellwig nach Steele habe die Wendezeit über Jahre maximal sechs Minuten betragen. So viel Zeit blieb den Fahrern an der Endhaltestelle, bis sie wieder zurückfahren müssen. Theoretisch. Denn der Berufsverkehr frisst diesen Puffer auf.

Anfang März demonstrierten Beschäftigte der Ruhrbahn gemeinsam mit Aktivisten der Klimaschutzinitiative Fridays für Future.

Foto: Moritz Kentler/FUNKE Foto Services
Anfang März demonstrierten Beschäftigte der Ruhrbahn gemeinsam mit Aktivisten der Klimaschutzinitiative Fridays für Future. Foto: Moritz Kentler/FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Moritz Kentler

Auf der Linie U17 zwischen Margarethenhöhe und Karlsplatz das gleiche Bild: „Es ging nur hin und her, hin und her“, berichtet Feda Acar. Bis die Ruhrbahn ein Einsehen hatte und eine zusätzliche Bahn auf der Strecke einsetzte.

Andere aus dem Fahrdienst schildern ähnliche Erfahrungen, sprechen von wachsendem Druck, klagen darüber, dass ihnen keine Zeit bleibt, um zur Toilette zu gehen, oder einmal durchzuatmen. Dass der Verkehr zugenommen habe über die Jahre und auch die Zahl der Fahrgäste, werde ignoriert. Frustriert seien auch die Kunden, wenn die Bahn zu spät kommt. Das ließen manche dann an den Fahrern ab. „Du Penner“ oder schlimmeres müsse er sich anhören, erzählt Acar und wird nachdenklich: „Ob ich heute hier noch mal anfangen würde? Definitiv nicht.“

Woher sollen die Fahrer für Essens neue Citybahn kommen, fragt ein Gewerkschafter

Nicht wenige geben schon in der Fahrschule auf, weiß Michael Ritter zu berichten. Die Fluktuation im Fahrdienst sei hoch. Vielen sei der Druck zu hoch, andere ließen sich abwerben, zum Beispiel von der Deutschen Bahn, die ebenfalls Fahrer sucht. Dass die Stadt Essen den Nahverkehr sogar ausbaut und 2026 die Citybahn, die neue oberirdische Straßenbahnlinie, am Hauptbahnhof vorbeiführen wird, findet Ritter richtig. Aber: „Wo sollen die Fahrer herkommen?“

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Ohne bessere Arbeitsbedingungen werde das nichts, dafür setzt sich Verdi im Tarifstreit ein. Dafür will die Gewerkschaft streiken. Nicht jeder bei der Ruhrbahn ist damit einverstanden. Im Streikfall drohen trotz Streikgeld Lohneinbußen. Wer streikt, hat etwa 20 Prozent weniger im Portemonnaie. Aber der Organisationsgrad ist hoch, laut Verdi sind rund 80 Prozent der Beschäftigten in der Gewerkschaft. Die hat sich bei der Abstimmung 95 Prozent Zustimmung zum Ziel gesetzt, berichtet Michael Ritter, der davon überzeugt ist, dass diese Quote auch erreicht wird.

Ein langfristiger Streik bedeutet laut Verdi nicht, dass gleich alle Räder stillstehen

Selbst wenn es am Ende weniger wird, wäre es mehr als eine faustdicke Überraschung, sollte Verdi bei der Urabstimmung scheitern. Was das angeht, ist die Stimmung im Pausenraum am U-Bahnhof Rathaus eindeutig. Langsam, aber stetig füllt sich dort die Holzkiste mit Stimmzetteln.

Sollte Verdi einen unbefristeten Streik ausrufen, würde das aber nicht bedeuten, dass auf einen Schlag bei Bussen und Bahnen alle Räder stillstehen, betont Gewerkschaftssekretär Dennis Kurz. Verdi spricht von einem „Erzwingungsstreik“, die Gewerkschaft will den Druck auf die Arbeitgeber dosiert erhöhen, indem in NRW mal hier gestreikt wird und mal dort. Bis es so weit kommt, werden noch Wochen vergehen. Am 9. April wird ausgezählt.

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