Essen. Im Lokal hört sie rechte Hetze, ihre Kinder werden angepöbelt. Eine Essener Ärztin will das nicht hinnehmen, sagt: „Wir alle müssen uns wehren.“

Sie ist in Essen zu Hause, arbeitet als Ärztin und engagiert sich in vielfältiger Weise für diese Stadt – und trotzdem muss sich Dr. Shabnam Fahimi-Weber ausländerfeindliche Parolen anhören und erleben, wie ihre Kinder angepöbelt werden. Die Anti-AfD-Demo am Montag (15.1.) hat sie als wichtiges Signal der Stadtgesellschaft erlebt: „Es geht nicht mehr so weiter, wir müssen uns wehren!“

So hatte es ein Freund am Sonntagabend formuliert und sie gefragt, ob er sie am nächsten Tag bei der Kundgebung am Rüttenscheider Stern sehen werde. Es war eine von ungezählten Nachrichten, die in den wenigen Tagen von der Ankündigung bis zu der Demo privat und über soziale Kanäle verschickt und geteilt wurden.

Dass bei Fröstelwetter viele Tausend Demonstranten und Demonstrantinnen jeden Alters zusammenkamen, um gegen die AfD, gegen rechte Hetze, Rassismus und Menschenverachtung zu demonstrieren, hatte einen aktuellen Anlass: Der „Correctiv“-Bericht über das Geheimtreffen in Potsdam Ende 2023, bei dem Mitglieder der AfD mit Personen aus der Identitären Bewegung, völkischen Nationalisten sowie Mitgliedern von CDU und Werteunion zusammengekommen sein sollen, um die Zwangsumsiedlung von Millionen Menschen in einen „Musterstaat“ in Afrika zu besprechen, hatte bundesweit für einen Aufschrei gesorgt.

Tausende demonstrierten in Essen gegen die AfD

Tausende Menschen demonstrierten am Montag (15.1.) in Essen-Rüttenscheid unter dem Motto „Gegen die AfD – Nie wieder ist jetzt“ gegen die AfD.
Tausende Menschen demonstrierten am Montag (15.1.) in Essen-Rüttenscheid unter dem Motto „Gegen die AfD – Nie wieder ist jetzt“ gegen die AfD. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die große Resonanz auf den Demo-Aufruf des Bündnisses „Essen stellt sich quer“ entsprang wohl auch einem schon länger währenden Unbehagen all jener, die sich als Teil einer offenen, bunten und liberalen Republik fühlen – und spüren, dass dieser Gesellschaftsentwurf in Gefahr ist. „Wir müssen endlich aufstehen! Es ist unsere Demokratie, unsere Kultur und unser jetziges freiheitliches Denken, das auf dem Spiel steht und das unwiderruflich verloren gehen kann“, betont etwa Shabnam Fahimi-Weber.

Sie habe die Demo als friedlich und unglaublich kraftvoll empfunden, schreibt sie im Netzwerk LinkedIn. „Das hat mir wieder Zuversicht und Hoffnung gegeben.“ Die Ärztin, deren Eltern aus dem Iran stammen und die in Deutschland aufwuchs, erlebt dieser Tage unverblümten Rassismus, ausgrenzende und hetzerische Kommentare, wie sie sie in ihrer Heimatstadt Essen wohl lange Zeit nicht für möglich gehalten hätte.

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Die Drohung mit der „Remigration“ kennt sie nicht nur aus der Berichterstattung über rechtsextreme Geheimtreffen – sondern vom Restaurantbesuch in Rüttenscheid. Unüberhörbar werde da am Nachbartisch schwadroniert: „Es gibt bald nur noch ausländische Ärzte in den Krankenhäusern, und die können nicht einmal Deutsch… Die sollten ruhig alle zurückgeschickt werden.“

Passant pöbelt: „Deine Rasse will ich ausrotten“

Auch andernorts würden nun offen ausländerfeindliche Parolen geschwungen, so müssten sich ihre Kinder wegen ihrer dunklen Haare anpöbeln lassen, teils drastisch: „Deine Rasse will ich ausrotten“, habe ein Passant ihrem Sohn zugerufen, der verstört nach Hause gekommen sei. „Meine Kinder verstehen das nicht, denn sie sehen sich als Essener Bürger und als Deutsche.“ Freunde mit Migrationsgeschichte erzählten ihr, dass sie die Smartphones ihrer Kinder mit Apps ausgestattet hätten, „damit sie im Falle eines Angriffs sofort informiert werden können“.

Wir müssen uns verbinden, uns wehren, unsere freiheitlichen Werte verteidigen. Denn: Wir sind mehr.“
Shabnam Fahimi-Weber, Ärztin aus Essen

Auch sie selbst habe schon den hässlichen Zuruf gehört: „Geh doch dahin zurück, wo Du herkommst.“ In ihrem Fall wäre das übrigens Düsseldorf. Leider komme die Hetze nicht nur von Unbekannten auf dem Bürgersteig oder im Bus. Auch in ihrem Umfeld höre sie die Abwertung gegenüber allen, die als fremd wahrgenommen werden. Wenn sie da widerspreche, heiße es oft: „Dich meinen wir doch nicht.“

Sie fühle sich aber gemeint! Und sie hasse die Rhetorik, die vermeintlich feinsinnig zwischen „dem guten und dem schlechten Ausländer“ unterscheide. „Wir sind hier alle tragende Säulen der Gesellschaft, nicht nur ich als Ärztin. Das gilt genauso für die Kosmetikerin, die die Fußpflege macht, oder den Radkurier, der das Essen ausliefert.“ Wer über „Remigration“ sinniere, solle sich diese Stadt einmal ohne Zuwanderer vorstellen.

Ihre Freunde denken über Auswanderung nach

Das diffuse Unbehagen, das viele der Anti-AfD-Demonstranten spüren, ist bei einigen Essenern und Esserinnen längst einem sehr konkreten Bedrohungsgefühl gewichen: Menschen, die hier seit Jahrzehnten in größter Selbstverständlichkeit leben. Noch leben. „Ich erwische mich – wie übrigens viele meiner Freunde – bei Überlegungen, ob ich in diesem Land weiterleben möchte“, sagt Shabnam Fahimi-Weber.

In den Wochen und Monaten vor der für sie ermutigenden Demo habe sie sich „traurig, wütend, geschwächt, verzweifelt gefühlt“. Wer diese tatkräftige, positive Frau kennengelernt hat, weiß, dass es um viel mehr als um einzelne Ausfälle gehen muss, wenn sie sich so äußert, so fühlt.

Ärztin fordert: „Wir müssen unsere Werte verteidigen“

Offenbar übt die Agenda von AfD und Co. auch auf manchen biederen Bürger, manchen Leistungsträger Anziehung aus, offenbar ist auch manchem aus der Mitte der Gesellschaft das Wertegerüst abhandengekommen. „Ich frage mich die ganze Zeit, wie konnte es so weit kommen. Seit wann ist rechte Hetze so salonfähig?“, rätselt die Medizinerin. Und: „Warum ist es ,normal’ über Menschen mit Migrationshintergrund lauthals zu schimpfen?“

Es ist eine neue Normalität, die sie nicht hinnehmen will und die – das macht sie klar – niemand hinnehmen sollte. Vor einigen Jahren habe sie das Holocaust-Museum Yad Vashem in Jerusalem besucht, in dem immer wieder auch die Frage aufgeworfen wird: „Warum haben wir es nicht rechtzeitig gemerkt, dass unsere Nachbarn Nazis sind?“

Geht es nach Shabnam Fahimi-Weber darf 2024 niemand mehr die Augen vor Rassismus, Ausgrenzung und Hass verschließen. „Wir müssen uns verbinden, uns wehren, unsere freiheitlichen Werte verteidigen“, sagt sie. „Denn: Wir sind mehr“.

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