Essen-Stadtwald. Ein Essener Zweithaar-Studio berät Menschen mit Haarproblemen und Krebspatienten – mit Herz und Erfahrung. Die Betreiberin ist selbst erkrankt.

Oligodendrogliom: Bereits der Begriff klingt schrecklich. Die Krankheit, die sich dahinter verbirgt, ist grausam – ein Hirntumor. Bösartig, doch langsam wachsend. „Immerhin das“, sagt Annett Klepke – und lächelt. Im Januar hat die 46-Jährige die Diagnose erhalten. Mittlerweile hat sie nicht nur eine Operation, sondern auch eine Bestrahlung im Westdeutschen Protonentherapiezentrum Essen (WPE) hinter sich; aktuell steckt sie mitten in der zweiten von sechs geplanten Phasen ihrer Chemotherapie.

Annett Klepke wirkt ein wenig müde, wie sie da in ihrem Sessel sitzt, dünn und mit raspelkurzen Haaren. Haare sind ihr Thema, seit gut 30 Jahren. Und seit mehr als einem Jahrzehnt kennt sie das, was sie derzeit selbst erlebt, nur allzu gut: Haarverlust durch Krankheit, durch Krebs. „Zertifizierte Zweithaar-Fachkraft war ich schon vor meiner Erkrankung; ich habe das Leid erlebt, das damit einhergeht. Ich habe bei vielen Kopfrasuren mitgeweint. Doch jetzt verstehe ich das alles noch einmal um einiges besser.“ Ihr Tumor sitzt am linken Frontallappen, dort, wo das Sprachzentrum liegt. „Von der Schläfe an bis oben wächst bei mir momentan noch kein Haar.“

Essener Zweithaar-Studio will die Angst vor einer Perücke nehmen

Gemeinsam mit ihrem Mann Ralf betreibt Annett Klepke „Frisur Kultur“ auf der Frankenstraße, ein Friseur- und Zweithaarstudio. Zweithaar, das meint Perücken, meint Haarteile, Toupets. Haarersatz also, der – lässt man die Cosplayer-Nische mal außen vor – mit einem recht angestaubtem Image und vielen Vorurteilen zu kämpfen hat. Dabei geht es auch ganz anders. „Wir wollen“, sagt Friseurmeister Klepke, „den Menschen, die zu uns kommen, die Angst vor einer Perücke nehmen“. Ziel sei es, ein Stück Normalität zurückzuerlangen, in einer Zeit, die alles andere als normal ist. Alltag eben. Trotz der Erkrankung oder gerade deswegen. Aber auch so etwas wie Schutz.

Friseurmeister Ralf Klepke setzt seiner Frau Annett eine Perücke auf.
Friseurmeister Ralf Klepke setzt seiner Frau Annett eine Perücke auf. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Beides spiegelt sich bereits in der Aufteilung des Ladens wider, im „Parcours“, wie Annett Klepke es nennt: Wer eintritt, hat die Wahl – rechts geht es in den Friseursalon, links ins Zweithaarstudio. Ralf Klepke: „Wir wollen die Kunden nicht wegschließen, viele machen die Zweithaar-Beratung auch vorn im Friseurbereich.“ Für alle anderen findet sich weiter hinten ein kleines ruhiges Studio. Der Weg dorthin beginnt „ganz soft“ bei Naturkosmetik und führt dann erst durch Auslagen mit zarten Chemo-Tüchern, bunten Mützen und mit unzähligen Perücken in unterschiedlichen Farben, Längen, Stilen und Qualitäten.

Chemotherapie oder Autoimmunerkrankungen führen zu Haarverlust

„Haarverlust ist mit psychischem Leid verbunden“, erklärt der Friseur. „Man fühlt sich einfach unwohl.“ Nicht immer gehen die Haare in Strähnen aus, manchmal verfilzen sie, werden nach und nach immer weniger. Und nicht immer sind Krebs und eine Chemotherapie der Auslöser. Autoimmunerkrankungen wie Alopecia areata, also kreisrunder Haarausfall, oder schlicht das Alter führen ebenfalls zu Haarproblemen.

Diese Probleme mit dem Haar oder besser: dem fehlenden Haar, seien allerdings, meint Annett Klepke, so etwas wie „hausgemacht“, typisch für eine Gesellschaft, in der Leistung und Erfolg zählen. In der es sich der erkrankte Geschäftsmann einfach nicht erlauben könne, krank zu wirken. Gesundes Haar als Statussymbol. Als Zeichen für Gesundheit.

Ein haarloser Kopf – Klepke vermeidet das „unschöne Wort“ Glatze – führe hingegen zwangsläufig zu Fragen, vor allem bei Frauen. „Oh Gott, entweder sind Sie krank oder warum machen Sie das? Ich selbst werde ja momentan auch manchmal ein bisschen komisch angeschaut, nicht böse, aber es passt halt nicht in die Norm, wenn du keine Haare hast.“ Wahrgenommen werde, das klingt aus ihren Schilderungen heraus, zuallererst die Krankheit. Der Mensch dahinter geht im Blick der anderen dagegen ganz langsam verloren.

Rasur ist oft das Ende eines Leidensprozesses

Die Lösung? Ist radikal, sehr intim und extrem vielschichtig. Ralf Klepke: „Wenn wir irgendwann die Haare runterrasieren, ist das die Beendigung eines Leidensprozesses.“ Zugleich beginne in diesem Moment für die Betroffenen sichtbar die Krankheit. Eine Erkenntnis, die oft mit Tränen einhergehe. „Jetzt sind die Haare weg, jetzt erkennt man es. Und das ist die größte Angst beim Ganzen.“

Echthaarperücken: Annett und Ralf Klepke beraten alle Kundinnen und Kunden individuell.
Echthaarperücken: Annett und Ralf Klepke beraten alle Kundinnen und Kunden individuell. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Seine Frau hat der Friseurmeister selbst für die OP vorbereitet und ihr im Vorfeld den Kopf rasiert. Annett Klepke erinnert sich: „Da saßen wir im Salon, er hat angesetzt, und das war schon ein ganz komisches Gefühl, wenn auf einmal die Maschine über deinen Kopf geht. Und dann liefen mir Tränen runter. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das auch passiert, dass ich weinen muss. Selbst in dieser Situation zu sein, das war schon sehr befremdlich.“ Danach aber, „habe ich mich befreit gefühlt; der Schritt ist jetzt abgehakt, jetzt kommt das nächste, und ich muss tapfer und mutig sein, auch diesen Schritt zu schaffen“.

Echthaarperücke oder Kunsthaar? Essener Zweithaar-Experten beraten individuell

Ins Krankenhaus selbst ist sie mit ihrer neuen Perücke gegangen – ohne, dass es jemandem aufgefallen wäre. Im Gegenteil: „Als die Ärzte sagten, dass sie mir jetzt leider meine schönen Haare rasieren müssen, habe ich gesagt: Das ist nicht notwendig. Und dann habe ich die Perücke abgenommen.“

Verlosung zugunsten von „Clownsvisite“

Noch bis zum 6. Oktober werden bei Frisur Kultur an der Frankenstraße 276 Lose für einen guten Zweck verkauft. Jedes vierte Los gewinnt, und der Erlös kommt vollständig der Arbeit der Klinikclowns des Essener Vereins „Clownsvisite“ zugute. Dessen Mitglieder besuchen vor allem junge Patientinnen und Patienten in über 20 medizinischen Einrichtungen im Ruhrgebiet.

Der Lospreis liegt bei fünf Euro pro Stück. Ausgelobt sind Preise im Einzelwert von bis zu 200 Euro, die von umliegenden Unternehmen am Stadtwaldplatz, aber auch von Geschäftsleuten aus Rüttenscheid, Rellinghausen und Bredeney sowie Firmen außerhalb von Essen zur Verfügung gestellt wurden.

Der Losverkauf erfolgt im Rahmen der üblichen Geschäftszeiten, dienstags bis freitags von 9 bis 18 Uhr, sowie samstags von 9 bis 13 Uhr. Die Gewinnausgabe ist für Donnerstag, 12. Oktober, von 9 bis 13 Uhr, Freitag, 13. Oktober von 13 bis 18 Uhr, und Samstag, 14. Oktober, ab 9 Uhr vorgesehen.

www.frisur-kultur.de

www.clownsvisite.de

Und genau so, davon sind die beiden Zweithaar-Spezialisten überzeugt, muss es sein. Es gehe darum, „die jeweils richtige Perücke zu finden“, eine die passt – zum Typ, zum Menschen, zum Kopf. Was nicht bedeute, dass man zwangsläufig bei derselben Frisur oder derselben Haarfarbe lande. Ralf Klepke: „Wir schauen individuell, was gebraucht wird.“ Und das muss keinesfalls immer die handgeknüpfte pflegeintensive Echthaarperücke für 4000 Euro sein. „Die Basismodelle im Bereich von 300 bis 400 Euro, die von der Krankenkasse übernommen werden, sind tatsächlich bereits sehr gut. Und das synthetische Kunsthaar ist einfach viel leichter zu pflegen.“ Gerade bei geschwächten Chemo-Patienten ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Essener Betreiber sind Friseure und Zweithaar-Spezialisten

Noch wichtiger aber: Die Konfektionsware muss auf jeden Fall „personalisiert“ werden, also in Längen und Konturen eingeschnitten oder noch einmal nachgenäht werden, damit der Sitz perfekt ist – und vor allem nicht auffällt. Bei Haarteilen hat Klepke mittlerweile selbst einige Hilfen ertüftelt – eigens angefertigte Haarreifen etwa, die für sicheren Halt sorgen. „Der Vorteil ist, dass wir beide Friseure, aber auch Zweithaar-Spezialisten sind. Wir haben quasi immer zwei Mützen auf, und das ergänzt sich gut.“

Annett Klepke hatte vor ihrer Erkrankung einen Pixie-Schnitt, auch kurz, aber eben nicht raspelkurz. Ihre neue Perücke ist blond, schulterlang und hat „Beachwaves“, leichte Wellen. „So habe ich meine Haare früher als junge Frau getragen, bevor ich meinen Mann kennengelernt habe. Und damit fühle ich mich richtig gut.“

Und das sei entscheidend, um dem Krebs zu trotzen: „Wichtig ist, dass es einem selbst gut geht, dass man das macht, was man möchte. Perücke, Tuch, Mütze oder eben haarloser Kopf. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so mutig bin, mit dem kurzen Haar auch mal rauszugehen.“ Spricht’s, lächelt, streicht etwas verschämt einmal über den Kopf – und geht dann ein Stück die Straße in Essen herunter, um sich einen Kaffee zu holen.

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