Duisburg. Babyklappen sind für manche Eltern der letzte Ausweg. Und für eine Familie das große Glück: Sie haben ein solches Kind in Duisburg adoptiert.
Das Baby ist blutverschmiert, nicht professionell abgenabelt. Aber es lebt. Wenige Minuten, nachdem jemand das Kind kurz nach der Geburt in der Babyklappe in Duisburg-Hamborn abgelegt hat, geht ein Alarm los. Pflegekräfte des St. Johannes-Hospitals kümmern sich um den elternlosen Säugling.
Der Junge ist in ein Handtuch gewickelt, als das Abenteuer seines Lebens beginnt. Es liegt als einziges Andenken an die Ursprungsfamilie ganz hinten im Kleiderschrank der Familie, die dieses Kind ihr großes Glück nennt. Sie hat das Baby aus der Babyklappe in ihr Herz geschlossen und adoptiert.
Kind aus der Babyklappe: „Mit einem Fingerschnips Eltern“
Carsten Meyer* ist stolzer Vater von zwei Kindern. Die Familie lebt in Duisburg, hübsche Doppelhaushälfte, die Wände und Regale voller Fotos, voll mit Zahnlücken, Dreirad-Rennen und Schokoeis-verschmierten Gesichtern.
Eigene Kinder waren dem Paar nicht vergönnt, nervenaufreibende Hormonbehandlungen scheiterten. Schließlich entschied es sich für eine Adoption, absolvierte einen Vorbereitungskurs des Jugendamtes, ließ sich mit allen Schreckensszenarien auf den Zahn fühlen. Dass das nötig ist, kratzte am Ego der beiden, so ausgeleuchtet und geprüft zu werden, obwohl jeder ein Kind bekommen könnte.
Im Kurs „mussten wir uns sehr ehrlich machen, uns fragen, was wir uns vorstellen können, was uns überfordern würde.“ Je offener Adoptiveltern sind, desto größer ist die Chance auf ein Kind, das war ihnen klar. Wenig später durften sie ein gut einjähriges Kind adoptieren. „Andere Eltern haben neun Monate Zeit, wir waren mit einem Fingerschnipsen Eltern“, erzählt der Vater.
„Wir waren schockverliebt“
Das Familienglück war zwar perfekt, aber das Paar wagte es, ihr Glück noch mal zu strapazieren und einen erneuten Adoptionswunsch zu äußern. Kurz vor Ostern kam dann ein Anruf, ob sie sich im Krankenhaus ein Baby anschauen wollen. Der Säugling war nur wenige Tage alt, das Krankenhausteam hatte ihm schon einen Namen gegeben. „Man bekommt dieses Kind in den Arm und ist schockverliebt“, erinnert sich Meyer. Theoretisch könnte man es sich dann noch überlegen, ob man es wirklich adoptieren will, aber praktisch? „Unmöglich!“ Dass es in der Babyklappe gelegen hatte, spielte da schon keine Rolle mehr.
Die Untersuchungen waren gemacht, alles okay, aber jedes Kind sei ein „Überraschungspaket“, so nennt es Carsten Meyer. Viele Erkrankungen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen sich erst im Kleinkind- oder Kindesalter. Er betont: „Keiner hat Anspruch auf das perfekte Glück, auch ein leibliches Kind kann herausfordernd sein, erkranken.“
Angespannte Zeit bis zur Adoption
Der Entschluss war jedenfalls schnell gefasst, in Windeseile alles für den Einzug des Säuglings vorbereitet. Eine Sorge blieb: Was ist, wenn sich die leibliche Mutter meldet, ihr Kind zurückhaben will? Ihrem Sohn daheim erklärten sie, dass ein Kind zu Besuch kommen werde und es vielleicht für immer bleibt. Dann könne er großer Bruder sein.
Carsten Meyer beschreibt die Zeit als angespannt. „Da schlugen zwei Herzen in unserer Brust. Einerseits gehört jedes Kind zu seiner leiblichen Mutter, andererseits lebte es jetzt bei uns und wir wollten es auch nicht mehr hergeben.“
In den beiden Duisburger Babyklappen liegt ein Umschlag, darin ist ein Passwort, mit dem sich die leibliche Mutter auch später noch zu erkennen geben könnte. In diesem Fall habe die Mutter oder die Person, die das Kind ablegte, davon aber keinen Gebrauch gemacht, sagt Meyer. Mit dem genauen Zeitpunkt der Ablage oder einer DNA-Analyse könnte sie ihre Zugehörigkeit dokumentieren, aber nichts davon passierte. Es dauerte kaum ein Jahr, bis die Adoption vollzogen war.
Die Kinder haben eine „Bauchmama“
Mit ihren Kindern gehen sie offen um, die Jungs wissen, dass sie jeweils eine „Bauchmama“ haben, eine gute Mama, die im Sinne des Lebens ihres Kindes gehandelt hat. Auch im engeren Familien- und Freundeskreis herrscht Transparenz. Kita und Schule hingegen seien nicht informiert worden. „Wir wollen nicht, dass mögliche Verhaltensauffälligkeiten automatisch damit begründet werden“, sagt Meyer und betont: „Wir schämen uns nicht, wir wollen nur unser Kind schützen.“ Unser Kind.
Er sagt das mit fester Stimme, voller Überzeugung. Auf den Kinderfotos entdecken Besucher gelegentlich Gemeinsamkeiten mit ihm oder seiner Frau. Das freut ihn dann ganz besonders, denn genetisch möglich ist es natürlich nicht.
Aber während der ältere Sohn später, wenn er volljährig ist, über die Adoptionsvermittlung einen Kontaktwunsch äußern und womöglich die leiblichen Eltern kennenlernen kann, bleibt es dem Jüngeren auf immer verwehrt, seine Wurzeln zu erforschen. Bislang haben die Kinder nie danach gefragt. Aktuell fiebern die leidenschaftlichen Fußballer der EM entgegen.
Keine Hinweise auf die leiblichen Eltern des Kindes
Meyer und seine Frau machen sich aber Gedanken darüber, wie es ist, wenn ihre Kinder mal selbst Eltern werden. „Bei unserem jüngeren Sohn werden immer zwei Puzzleteile fehlen, das Bild seines Ursprungs wird nie vollständig sein“, sagt Meyer. Recherchen über das Etikett des Handtuchs aus der Babyklappe verliefen im Sande. „Wir hoffen, dass er in unserer Familie stark genug wird, um diese fehlenden Teile nicht als Makel zu empfinden.“
Die vielen offenen Fragen treiben die Eltern um, was mag die Mutter angetrieben haben? War sie ungewollt schwanger? Wurde sie vergewaltigt? Lebte sie in armen Verhältnissen, hatte schon mehrere Kinder und glaubte, ein weiteres nicht stemmen zu können? „Wir zermartern uns das Hirn darüber“, sagt er. „Bei uns ist alles Friede, Freude, Eierkuchen, man kann sich nicht hineinversetzen in einen Menschen, der keinen anderen Ausweg sieht, als sein Kind in eine Klappe zu legen.“
Auch an den leiblichen Vater denkt das Paar. Ob er überhaupt von seiner Vaterschaft weiß, oder ob er womöglich der Initiator für die Weggabe des Kindes war? Fragen, die nie beantwortet werden.
Ohne Babyklappe wäre ihr Kind vermutlich tot
Ihm ist klar, dass sein Sohn während der Schwangerschaft vermutlich nicht optimal versorgt war, dass die Mutter keine Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen, keine Folsäuretabletten schluckte, psychisch maximal gefordert war. Umso mehr sei es wichtig, junge Menschen schon in der Schule darüber zu informieren, dass es Unterstützungsangebote gibt. Aufkleber in öffentlichen Toiletten könnten darauf hinweisen, dass es im äußersten Notfall auch sowas wie Babyklappen gibt.
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Ob es das Leben von „Mia“ gerettet hätte, deren kleiner Leichnam 2018 in einem Duisburger Altkleidercontainer gefunden wurde? Das Schicksal dieses Kindes wählt Meyer, wenn Kritiker, die nach seiner Wahrnehmung vor allem aus einer konservativ-religiösen Ecke kommen, Babyklappen kritisieren. „Sie sagen, dass man das Kind seiner Identität beraubt, wenn es seine Herkunft nicht kennt. Wir sagen, es hätte gar keine Identität, weil es im Altkleidercontainer gestorben wäre.“
*Wir haben die Familie auf Wunsch der Eltern anonymisiert.
>> HILFE FÜR SCHWANGERE FRAUEN UND ANGEHÖRIGE
- Die beiden Babyklappen befinden sich am Sana-Klinikum in Wedau und am Johannes-Hospital in Hamborn.
- Das Hilfetelefon „Schwangere in Not“ des Familienministeriums ist rund um die Uhr zu erreichen. Unter 0800-4040020 können sich Frauen anonym, kostenlos und in 19 Sprachen beraten lassen. Weitere Infos gibt es auf der Webseite www.hilfetelefon-schwangere.de
- Schwangerschaftskonfliktberatungen werden in Duisburg vielfach angeboten: Von Pro Familia, dem Caritasverband, der Evangelischen Beratungsstelle sowie dem Beratungs- und Therapiezentrum im Gesundheitsamt der Stadt.
- Über die Verwendung der Babyklappe informiert der Duisburger Verein Kind im Krankenhaus auf seiner Webseite.